Individualistische Unsterblichkeit
Posted: Oktober 22nd, 2023 | Author: garamsalami | Filed under: Essay, Politik | Tags: Ausbeutung, krieg, propaganda, psychiatrie, Tod, unsterblichkeit, unterdrückung | No Comments »Lesezeit: ~6 Minuten
Content Notes: Tod, strukturelle Gewalt, Drogen, Krieg, Wohnungslosigkeit, psychische Krankheiten
One thing about me: Mein Leben ist fucked. Hätte ich nicht zu jeder Zeit gekämpft wie ein Löwe, wäre ich tot. Gewalterfahrungen, Armut, psychische Krankheiten, Wohnungslosigkeit sind Lebensrealitäten, die eine Gesellschaft mir aufgebürdet hat, für die ich nichts wert bin, weil ich als Erwachsener mehr Zeit in Psychiatrien als im Büro verbracht habe. Erfrierende wohnungslose Menschen, Drogentote, Kriegsopfer, durch die Polizei Ermordete sind direkte Konsequenzen eines Systems, das uns nach unserer Leistung einen Lebenswert zuschreibt und ausselektiert. Der unnatürliche Tod ist eine nicht zu leugnende Realität des Kapitalismus. Ich spüre ihn in jeder Zelle meines Körpers, schmecke ihn in dem Essen, das ich mir kaum leisten kann, lese ihn in dem Inkassobrief, dessen Absender in Indonesien sitzt. Jeden Tag wenn wir in die Nachrichten schauen, sehen wir Tote, echte Menschen, für die es niemals ein Happy End geben wird. Die Allgegenwertigkeit des Sterbens ist so offensichtlich und doch versuchen meine Psychiaterin, mein Betreuer, meine Therapeutin, Gott küsse ihre Augen, mir verzweifelt zu vermitteln, dass alles gut wird, ich die Tötungsmaschine des Kapitalismus überwinden könne, wenn ich nur eine Heilung, das Leben, zulassen würde.
Ich scherze immer wieder, das haben einige von euch wahrscheinlich schon gehört, dass weiße Menschen durch ihre komfortablen, privilegierten Leben keinen Überlebensinstinkt mehr hätten. In dieser Polemik steckt doch die Wahrheit, dass extrem viel von unserem Verhalten zeigt, dass wir nicht wissen, dass wir sterben können. Andere Menschen sterben, aber uns kann das nicht passieren. Der Aufstieg der Smartphone-Videos lässt es uns jeden Tag im Internet erleben, wie Leute auf die dümmsten Weisen für Aufmerksamkeit ihre Leben durch waghalsige Streiche und Stunts riskieren, oder in tatsächlichen Gefahrensituationen keinerlei Fluchtimpuls verspüren und lieber filmen. Diese unumstößliche Gewisstheit, niemals sterben zu können, spiegelt sich auch in politischen Entscheidungen wieder, die oft konkret über Leben und Tod entscheiden: Alle unsere Pandemiemaßnahmen haben sich an einem akzeptablen Maß des Todes orientiert. Wenn wir trotz steigender Infektionszahlen auf Großveranstaltungen gegangen sind, dann in dem unumstößlichen Wissen, dass andere an Corona sterben, niemals wir. Wenn wir uns gegen Tempolimits auf deutschen Autobahnen entscheiden, dann in der festen Überzeugung, dass wir niemals in einen tödlichen Verkehrsunfall verwickelt werden, wie die anderen durchschnittlich 10 Deppen pro Tag. Verweigern wir uns einer Bekämpfung des Klimawandels, dann nur, weil es unmöglich ist, dass wir bei einer Hungernots oder in einem Ressourcenkrieg sterben können.
Ausgelöst wird dieser Irrglaube durch die individualistische Propaganda, dass wir alle Protagonist*innen, unsere Mitmenschen nur Nebendarsteller*innen sind. Wir sind alle besonders, unsere Bedürfnisse und Wahrnehmungen sind immer korrekt und unsere Lebensgeschichten ein spannendes, weltbewegendes Narrativ. Wie einzigartig und speziell wir sind drücken wir durch unsere Konsumentscheidungen aus, unseren Musikgeschmack, unsere Lieblingsfilme, unseren Kleidungsstil aus, den wir öffentlich zur Schau stellen. Wer am meisten die coolsten Dinge konsumiert, ist am besondersten. Diese Propaganda leben uns alle kapitalistischen Medien vor und schon in unserer Kindheit spüren wir sie in Form von Gruppenzwang, wenn wir ohne den Besitz des neusten Trends uncool, „out“ sind. Eben diese Medien leben uns auch vor, dass den Protagonist*innen nichts passieren kann: Egal wie vielen Widrigkeiten sie ausgesetzt sind, am Ende lösen sich doch alle Probleme, und kommt es doch einmal zum Tod, dann ist dieser besonders, episch und historisch. Dass unser Leben einen von Hollywood verfassten Spannungsbogen haben muss, macht uns immun gegen einen langweiligen, plötzlichen Tod: Wenn unsere Lebensaufgaben noch nicht erfüllt sind, all unsere Probleme noch nicht gelöst, dann können wir auch nicht plötzlich an so etwas Langweiligem wie struktureller Gewalt sterben. Diese Lüge glauben wir bereitwillig, um den Tod niemals konfrontieren zu müssen. Massensterben, Mord und Totschlag, die uns jeden Tag ins Gesicht schreien, können wir nur durch die größte aller Illusionen, der Realitätsverweigerung der Unsterblichkeit, ignorieren.
Egal welche Probleme wir haben, welchen Realitäten und Gefahren wir ausgesetzt sind, es ist ein unumstößlicher Glaube, dass alles gut wird. Nach über 10 Jahren psychischer Erkrankung kann ich diese Floskel nicht mehr hören, „Es wird immer wieder besser“. Diese hohlen Worte lassen sich in 2 Sekunden durch einen Blick auf die Menschheitsgeschichte entkräftigen: Wie viele Menschen sind auf die schrecklichsten Weisen gestorben? Wurden durch Krieg und Genozid ermordet? Wie viele sind es jetzt gerade während ich diese Zeilen schreibe? Ist es für sie alle „besser geworden“, hatten sie ein Happy End? Wenn wir uns die Verdammten dieser Erde anschauen, die Fallengelassenen, die Getretenen, wie können wir ihnen erzählen, dass alles gut wird, solang die geladene Waffe der Leistungsgesellschaft an ihrer Schläfe zittert? Wie wollen die Menschen, die meine „professionelle Hilfe“ darstellen, mir weiß machen, dass es eine schillernde Zukunft für mich gibt, wenn so viele meiner Vorbilder, so viele meiner Leidensgenoss*innen, reudig verreckt sind und noch verrecken werden. Wie kann ein System Sicherheit und Heilung bieten, das auf einer realitätsfernen Wahnvorstellung beruht?
Dass alles gut wird, die Revolution unweigerlich siegen muss, wir uns alle nach der Zerschlagung des Kapitalismus in den Armen liegen werden, schlägt sich auch in linkem Aktivismus nieder. Wir müssen gar nichts für die Revolution tun, unsere Leben nicht riskieren, nicht unter widrigen Umständen kämpfen, denn der Sieg ist gewiss, und wir werden alle als die großen Revolutionäre des Zentralkomitees, als Maos, Che Guevaras, Lenins in die Geschichte eingehen. Wir alle träumen davon, einer der großen Namen der Bewegung zu werden, die revolutionären Massen anzuführen, doch vergessen wir, dass diese schillernden Vorbilder auf den Schultern all ihrer Genoss*innen stehen, welche die Revolution nicht überlebt haben. Alle wollen wir wie ein Mao glorreich siegen, und vergessen die historische Realität, dass hunderttausende tapfere Kämpfer*innen mit dem Gewehr in der Hand den Tod gefunden haben, um anderen eine Zukunft zu schenken, ohne jemals Berühmtheit zu erlangen. Sogar wir Linken halten uns für unsterbliche Protagonist*innen unserer politischen Arbeit, und fokussieren uns so auf Praxis, die den hollywoodreifen Spannungsbogen unserer Lebensgeschichte ausgestaltet, statt der Revolution zu dienen.
Der Tod im Kapitalismus ist eine Realität, die mir keine Therapie, keine Sozialberatung, kein Medikament jemals verschleiern wird. Ich finde es nett und schätze es, dass Menschen sich beruflich um mich kümmern, auch wenn ich für diese Hilfestellungen erst durch bürokratische Höllen gehen musste. Diese noblen Menschen, mit denen ich mich auch gut verstehe, operieren doch in einem System, das ihre Arbeit zu einem Pflaster auf eine klaffende Stichwunde macht. In meiner Zukunft sehe ich nur einen Überlebenskampf darum, mich nicht noch einmal stechen zu lassen, dem Kapitalismus das Messer zu entreißen und ihm in die eigene Gurgel zu rammen. Ich möchte glauben, dass alles gut wird, mir diese Aufgabe gelingt, ich als alter Mann umsorgt von meiner Community den ganzen Tag in Frieden und Sicherheit Schach spielen kann, und vielleicht wird es so kommen, vielleicht aber auch nicht. Es ist richtig und wichtig von der Unsterblichkeit zu träumen, doch unser revolutionäres Handeln muss immer von der Realität bestimmt sein, und die endet unweigerlich mit unserem Tod.