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Ukraineinvasion: Eine militärhistorische Einordnung

Posted: Februar 28th, 2022 | Author: | Filed under: Essay, Geschichte | Tags: , , , , , , , , , , , , , , , | No Comments »

Westliche Medien zeichnen ein triumphales Bild einer widerständischen Ukraine, doch lässt sich ein Kriegsausgang bereits jetzt vorraussagen? Eine historische Einordnung.

CN: Krieg

Lesezeit: ~7 Minuten

Disclaimer: Die militärische Situation in der Ukraine ist extrem dynamisch und vor allem als Zivilist per öffentlicher Nachrichten kaum zu beurteilen. Ich schreibe diesen Artikel mit geöffnetem ARD-Newsticker und versuche ihn möglichst schnell fertig zu stellen und zu veröffentlichen, trotzdem besteht die Gefahr dass die Informationen hier bereits bei Erscheinen nicht mehr aktuell sind. Stand: 28. Februar 2022, 17 Uhr.

Disclaimer 2: Da dieser Artikel möglicherweise von Menschen gelesen wird, die mich nicht kennen, halte ich eine Klarstellung meiner politischen Ansichten für notwendig: Ich bin Antiimperialist und halte jeden Krieg zwischen kapitalistischen Nationalstaaten für einen imperialistischen Krieg. Zwar ist Russland der klare Aggressor in diesem Konflikt, doch ukrainische Soldaten sterben ebenfalls nur für Kapitalinteressen und ich lehne jede Glorifizierung des ukrainischen Militärs ab.

Wir befinden uns am 5. Tag der Invasion der Ukraine und entgegen vieler Erwartungen liefert das ukrainische Militär immer noch einen tatsächlichen Kampf. Der russische Angriff scheint bereits seit 3 Tagen kaum mehr Fortschritte zu machen, weshalb ich es jetzt für mögliche halte, eine kurze momentane Einschätzung abzugeben, nachdem ich in den ersten Kriegstagen die Lage für zu dynamisch und unberechenbar hielt. Der Optimismus scheint auch in EU- und NATO-Staaten zu steigen, bewiesen durch einsetzende Waffenlieferungen und das unreflektierte Teilen ukrainischer Kriegspropaganda. Es wird das Bild eines David gegen Goliath beschworen, ein Scheitern der Invasion vermutet.

Es ist mit für Zivilist*innen zugänglichen Informationen jedoch unmöglich, die Kriegslage objektiv einzuschätzen. Ob die Ukraine die Invasion erfolgreich abgewehrt hat und abwehrt, werde ich hier nicht beantworten können. Stattdessen möchte ich anhand einer militärhistorischen Einordnung sogar darlegen, warum ein Ausgang des Krieges momentan unabsehbar ist und sich alle Informationen, die auf einen möglichen Ausgang hindeuten, gegensätzlich interpretieren lassen.

Wie funktioniert moderner Krieg?

Bis in die 1800er wurde Krieg in der Regel entweder durch die Belagerung von Städten oder klassische Feldschlachten geführt. Dabei hat eine einzige lokale Schlacht oft den Krieg entschieden. Dies wurde durch Schnellfeuerwaffen im Ersten Weltkrieg und mobile Kriegsführung mit Panzern im Zweiten Weltkrieg unmöglich, weil zu tödlich für beide Seiten. Stattdessen wird heute „operativer“ Krieg geführt, wie er im Ersten Weltkrieg erprobt und im Zweiten perfektioniert wurde. Bei operativer Kriegsführung planen Konfliktparteien sogenannte Operationen, bei denen klar von langer Hand geplant und vorbereitet wird, welche Militäreinheiten wo welches konkrete Ziel erreichen sollen. Beim Beginn einer Militäroperation muss jede Einheit wissen, was sie wann und wo zu tun hat, der Plan läuft im Optimalfall beinahe automatisiert ab. Operative Ziele können dabei die Umzingelung von Feindeinheiten, die Eroberung von strategisch wichtigen Logistikzentren oder Städten, das Brechen von spezifischen Verteidigungsstellungen, das Abschneiden von Nachschub für den Feind, die Überquerung von natürlichen Hindernissen wie Flüssen, und ähnliches sein.

Die reine Eroberung von Territorium erfüllt dabei militärisch fast keinen Zweck, wenn sie nicht der Erfüllung einer dieser Ziele dient. Dies lässt sich an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg beobachten: Zu Beginn der Invasion der Sowjetunion 1941 hatte die Rote Armee extreme Verluste gegen die Wehrmacht, da sie an der Verteidigung von Territorium festhielt, während die Wehrmacht primär operative Ziele verfolgte. Nach der Schlacht von Stalingrad drehte sich dieser Effekt um, da Hitler sich vehement gegen die Aufgabe von Territorium wehrte und seine Hoffnung in alles entscheidende Schlachten setzte, während die Rote Armee dynamisch operative Ziele verfolgte.

Momentan scheint es sowohl aus ukrainischen als auch russischen Medien so zu klingen, als würde die russische Armee immer noch Landgewinne verzeichnen, doch reine Landgewinne ohne operatives Ziel sind in moderner Kriegsführung beinahe wertlos. Über die operativen Ziele der russischen Armee kann nur spekuliert werden, doch ein Blick auf die Karte zeigt: Es wurde keine ukrainische Großstadt erobert, die ukrainische Regierung konnte nicht ausgeschaltet werden und es ist momentan unklar, ob die russische Armee es geschafft hat bei Cherson den Dnepr zu überqueren. Egal wie die operativen Ziele der russischen Regierung aussahen, sie haben garantiert noch kein einziges erfüllt.

Der erste Krieg seiner Art?

Imperialistische Medien versuchen den Krieg in der Ukraine als Präzedenzfall für die Menschheitsgeschichte darzustellen, vor allem aus einer Perspektive der White Supremacy heraus. Einige Medienhäuser haben es in den letzten Tagen klar und ohne doppelten Boden formuliert: Die Einzigartigkeit dieses Krieges kommt durch das Weißsein der Opfer. Die NATO, die sich jetzt als Opfer russischer Aggression sieht, befeuert und führt weltweit selbst Kriege gegen kolonisierte Menschen, deren Leben für Weiße weniger Wert sind. Die klar rassistische und imperialistische Komponente der Wahrnehmung dieses Krieges lässt sich nicht verneinen, ist jedoch auch nicht der Fokus dieses Artikels.

Tatsächlich liefert zumindest militärhistorisch dieser Krieg eine Präzedenz, auf die gerade alle Militärs der Welt sehr genau schauen und in den kommenden Jahren daraus Lehren ziehen werden: Auch wenn Russland in Technik und Material weit überlegen ist, handelt es sich um den ersten Krieg zwischen zwei modernen, mechanisierten Armeen seit dem Zweiten Weltkrieg. Mechanisiert meint in diesem Fall, dass beide Armeen über gepanzerten, bewaffneten Transport (und Treibstoff) für ihre Truppen verfügen. Dass solcher Krieg weltweit noch nie in dieser Form geführt und nur auf der theoretischen Ebene geprobt wurde, könnte eine Erklärung für das scheinbare Versagen der russischen Truppen sein. Zwar sind die Lektionen des Bewegungskrieges aus dem Zweiten Weltkrieg in jeder modernen Armee verankert, doch es ist unabsehbar, welchen Einfluss moderne Lenkwaffen, Drohnen, Informations- und Kommunkationstechnik auf diese alternden Kriegskonzepte haben. Es ist also auch entscheidend für den Kriegsausgang, wie schnell sich beide Seiten auf diese neue Art des Krieges einstellen können.

Bereits 1991 im Golfkrieg trafen zwei (teilweise) mechanisierte Armeen aufeinander. Eine von den USA angeführte Koalition griff den Südirak an, um das von Irak besetzte Kuwait zu befreien. Ein direkter Vergleich zum Krieg in der Ukraine ist jedoch kaum zu ziehen, da der Angriff auf den Irak internationale Unterstützung hatte und deshalb durch wochenlanges Bombardement vorbereitet werden konnte, sodass die mechanisierten, irakischen Elitetruppen bereits zu Beginn der Bodenkämpfe mangelversorgt und demoralisiert waren. Der Angriff der Koalition auf den Südirak war klar und minutiös geplant, die irakische Armee (im Gegensatz zur ukrainischen Armee heute) am fünften Tag der Kämpfe bereits zerschlagen und die klar abgesteckten operativen Ziele der US-Koalition erfüllt. Während sich also im tatsächlichen Verlauf der Kämpfe beinahe keine Parallelen zum Golfkrieg ziehen lassen, wirft dies jedoch die Frage auf: Was hat das russische Militär nach monatelangem Aufmarsch, langer Vorbereitung und kaum vorstellbarer materieller Übermacht daran gehindert, die ukrainische Armee innerhalb weniger Tage zu zerschlagen? Fragen, die sich erst in Zukunft durch militärhistorische Analyse beantworten lassen werden.

Hat die Ukraine also eine Chance zu gewinnen? Ich weiß es nicht. Da sich ein moderner Kriegsverlauf kaum an Landgewinnen und Frontverlauf ablesen lässt, kann man ohne genaue Informationen über die Stärke, Versorgungslage und Moral beider Armeen nur spekulieren. Das Steckenbleiben des russischen Vormarschs könnte ein Zeichen für ein Scheitern des russischen Angriffs sein, es könnte jedoch genau so gut durch ein verzweifeltes verheizen ukrainischer Reserven bedingt sein, die jeden Moment kollabieren könnten. Tendenziell ist jedoch davon auszugehen, dass sich die ukrainische Lage durch Einsetzen von Waffenlieferungen durch NATO-Staaten nur weiter stabilisieren wird. Dennoch befinden wir uns noch in der frühen Kriegsphase und vieles kann sich ändern: Der Krieg könnte noch Jahre gehen, er könnte auch morgen schon vorbei sein.

Gerne wäre ich in diesem Text noch genauer auf die Tschetschenienkriege eingegangen, die ein Beispiel für russische Kriegsführung und ihr Scheitern aufzeigen. Beim Schreiben habe ich jedoch bemerkt, dass ich mit einer Analyse der russischen Militärfehlschläge in Tschetschenien nur unfundierte Spekulation über das scheinbare aktuelle russische Scheitern befeuern würde, da ich unmöglich wissen kann, ob die russische Armee momentan ähnliche Fehler wie damals begeht. Auch die ukrainische Armee wird die Verteidigungstaktiken Tschetschenischer Kämpfer damals studiert und ihre Lehren daraus gezogen haben, doch auch hier weiß ich nicht, ob/wie dies angewendet wird. Dennoch sind auch diese Kriege ein wichtiger Präzedenzfall, der in Zukunft zum Verständnis des aktuellen Krieges analysiert werden muss.


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