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Weinende weiße cis Männer: Weltschmerz vs Unterdrückung

Posted: September 29th, 2021 | Author: | Filed under: Essay, Musik | Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | No Comments »

Ausgerechnet weiße cis Männer schreiben die melancholischste Weltschmerzmusik. Wie hängen der Mangel an struktureller Unterdrückung und die erfolgreiche musikalische Verarbeitung ihres Leids zusammen?

Lesezeit: ~10 Minuten

Content Notes: Faschismus, Tod, Suizidalität, Autounfall, Patriarchat, Ausbeutung, White Supremacy, Missbrauch, Rechtsterror, Amoklauf, psychische Krankheit, Kriminalität, Drogen, Mord

Erwähnte Medien: The Smiths, Lil Peep, Asking Alexandria, Morrissey, Romeo und Julia, Die Leiden des jungen Werther, Brotha Lynch Hung, Blumfeld, Hanybal

Ob Postpunk, Cloud Rap oder Metalcore, ob The Smiths, Lil Peep oder Asking Alexandria, die melancholischste, weltschmerzgetränkteste Musik aller Genres scheint von weißen cis Männern gemacht. Sie wirken alternativ und wie intelligente, reflektierte Denker, entsprechen imperialistischen Schönheitsidealen vom dünnen, gepflegten Mann und präsentieren eine im Patriarchat untypische Verletzlichkeit. Während dies auf den ersten Blick beinahe wie eine fortschrittliche Entwicklung wirken kann, outen sich gerade diese „verletzlichen“ Künstler im schlimmsten Fall wie etwa The Smiths‘ Morrissey durch Faschismus als reaktionäre Macker ohne die Empathie, die man durch ihre Musik erwarten würde; im weniger schlimmen Fall mindestens als pathetische Paternalisten. Warum scheinen die meisten Vertreter des fatalistischen, ungelenkten Weltschmerzes in der Musik eben diese weißen cis Männer zu sein, und warum setzen sich BIPOC cis Männer in ihrer Musik anders mit dem Schmerz ihrer strukturellen Unterdrückung auseinander, obwohl sie unter der selben toxischen Männlichkeit operieren sollten?

And if a double-decker bus
Crashes into us
To die by your side
Is such a heavenly way to die
And if a ten ton truck
Kills the both of us
To die by your side
Well, the pleasure, the privilege is mine

– The Smiths – There Is A Light That Never Goes Out

1986 haben The Smiths auf ihrem dritten Album The Queen Is Dead einen ihrer populärsten Songs, There Is A Light That Never Goes Out, veröffentlicht, eine Ballade über romantisierte Todessehnsucht. Begleitet von düsteren, überlagerten Akustikgitarrenklängen und einer klassischen New Wave-Basslinie beschwört der Sänger Morrissey lyrisch die fatalistische Stimmung jugendlicher, eventuell unerwiderter Außenseiterliebe. Die erzählende Figur fühlt sich heimatlos und möchte sich mit einer romantischen Bezugsperson ziellos im Nachtleben verlieren, um dieser empfundenen Heimatlosigkeit zu entfliehen. Zum Höhepunkt des Songs, dem Refrain, intensiviert durch einen Streichersynthesizer, wünscht sich das lyrische Ich explizit den gemeinsamen Tod durch einen Autounfall mit eben dieser Person, dem ultimativen, verklärten Ende zu einem Gefühl der jugendlichen Verlorenheit.

There Is A Light That Never Goes Out reiht sich thematisch in eine lange Tradition der imperialistischen Fiktion ein, wie etwa Shakespeares Romeo und Julia (~1597) oder Goethe‘s Die Leiden des jungen Werther (1774). Liebe erfordert in dieser Tradition maximale, monogame Hingabe vor Gott und ist zentraler Lebensinhalt, um mit Fortpflanzung langfristig Nachwuchs (und damit Arbeitskraft) als kapitalistische Ressource zu sichern. Zu dieser antikapitalistischen Analyse gehört jedoch auch die Anerkennung, dass Beziehung, Liebe und Familie eine der wenigen psychischen Heilungen in einem System sind, das jede mögliche menschliche Freude in Konsum umwandelt. Der Verlust des eigenen Lebenswillen in der Liebe, bis hin zur Romantisierung des gemeinsamen Todes, ist daraus eine logische Konsequenz, und zieht sich deshalb nicht zufällig schon seit Beginn der Renaissance und Romeo und Julia durch unsere Medien.

Die Stellung der Familie und Liebe im Kapitalismus privilegiert den kapitalistisch arbeitenden weißen cis Mann mit Status und Möglichkeiten, während Reproduktions- und Carearbeit als Pflicht konstruiert und gebärfähigen Menschen zugeschoben werden, deren Nichterfüllung der Gesellschaft sogar schaden würden, also keines Dankes und Anerkennung bedürfen. LGBTQIA+ werden in einer imperialistischen, von christlicher Religion und Patriarchat bestimmten Gesellschaft zusätzlich als abweichend vom heteronormativen Reproduktionskonstrukt ausgegrenzt. Durch White Supremacy werden BIPOC abgewertet, um ihre globale, unmenschliche Ausbeutung moralisch möglich zu machen.

In einer Welt, die von weißen cis Männern für weiße cis Männer gemacht ist, in der sie von klein auf lernen, dass ihnen Erfolg bei kapitalistischer Teilnahme garantiert ist, muss durch Klassengesellschaft unvermeidbarer Misserfolg massive Sinnkrisen auslösen. Neben Betrugsgefühlen und Rachefantasien an der Gesellschaft, die ihnen etwas schulden würde, manifestiert sich diese Verlorenheit statt in antikapitalistischer Erkenntnis in ungelenktem Weltschmerz. Statt die konkreten, strukturellen Gründe für ihren Schmerz zu erkennen, wird die komplette Welt diffus zu einem inhärent schmerzvollen Ort ohne Ausweg verklärt. Während weiße cis Männer diese Gefühle oft in melancholische, nachdenkliche Musik stecken, haben sie außerhalb der Kunst dagegen häufig einen Hang zu aggressiver, zerstörerischer Gewalt, ob im missbräuchlichen Umgang mit FLINTA oder in Form von Rechtsterror und „Amokläufen“.

Der Weg zur strukturellen Analyse wird von einer individualistischen, neoliberalen Gesellschaft aktiv versperrt. Während die Raten von psychischen Krankheiten mit den Jahren und dem langsamen Kollaps des Kapitalismus immer weiter ansteigen, wird psychische Gesundheit immer mehr depolitisiert und privatisiert. Ganz im Sinne des Neoliberalismus ist jede Person für ihr eigenes Scheitern und Glück verantwortlich, so auch für psychische Krankheit/Gesundheit. Wir sehen das in der Omnipräsenz von Ratgebern, Artikeln und Schulungen zu den Themen „Selfcare“ und Burnout-Prävention, aber sogar in professioneller, psychologischer Verhaltenstherapie, welche allesamt persönliche Handlungsweisen, Rituale und Denkübungen betonen, die ein Pflaster auf kapitalistische Ausbeutung sein sollen.

Nigga you know the process, they wanna kill me now
I’m a dead man walkin‘ to my funeral, can you feel me now?
And if I die before your set gets blasted
That’s on the Gardens I’m gon‘ rise up out my casket


I’m liquor sick and I just might lose control
So load your clips, locs, ‚cause we ridin‘ for my folks

– Brotha Lynch Hung – Liquor Sicc

In meinem Geburtsjahr, 1995, veröffentlicht der Rapper Brotha Lynch Hung sein Album Season Of Da Siccness, ein Meilenstein des Horrorcore-Raps. Das Album ist dominiert von Gewaltfantasien und Drogenexzessen, in einem Maß das im Gegensatz zu vielen Rapalben dieser Zeit keine mögliche Lebensrealität mehr widerspiegelt. Diese lyrische Intensivierung und Fantasierung der Schlüsselthemen einer Kunstrichtung kann historisch oft beobachtet werden. Sehr real jedoch ist der Hintergrund des Tracks Liquor Sicc, in dem Brotha Lynch Hung über den Mord an seinem Cousin Q-Ball während Gangrivalitäten rappt. Der ganze Track ist eine lyrische Ankündung von Rache an der verfeindeten Gang, bei der Brotha Lynch Hung willentlich seinen Tod in Kauf nimmt. Diese Rachegefühle sind kein individualistischer, philosophischer Weltschmerz, sondern natürlich Ausdruck einer unmittelbar durch strukturelle Gewalt ausgelösten Trauer über ein gestorbenes Familienmitglied.

Über diesen Track hinaus hat Brotha Lynch Hung keine tatsächliche Rache geübt (oder wurde zumindest nicht dabei erwischt) und sprach 13 Jahre später in einem Interview auch davon, dass der Track eine unüberlegte Impulsentscheidung war. Season Of Da Siccness allgemein und Liquor Sicc speziell sind extrem impulsive, wütende und hasserfüllte, statt melancholischer und reflexiver Werke, jedoch auch ein Spiegel der strukturellen Umstände von Gangkriminalität und Drogenkonsum, die strukturell durch Unterdrückung bedingt oder sogar durch imperialistische Intervention wie etwa dem Crackhandel der CIA provoziert sind. Es kann natürlich auch ein Argument dafür gemacht werden, dass auch rassifizierte cis Männer durch das Patriarchat auf diese strukturelle Unterdrückung aus der Perspektive ihrer toxischen Männlichkeit heraus reagieren, jedoch manifestiert sie sich aufgrund struktureller Unterdrückung oft in Gewalt und Kriminalität, die letzten Endes bis zum Knast das kapitalistische Überleben sichern. Season Of Da Siccness ist aus keiner Perspektive betrachtet ein explizit antikapitalistisches oder progressives Werk, kann jedoch nicht ohne eine Untersuchung der kapitalistischen Lebensumstände Schwarzer Gangmitglieder in den USA der 90er analysiert werden.

Nicht nur werden Emotionen, Schmerz und Leid depolitisiert, durch den imperialistischen Fokus auf „Rationalität“, „Objektivität“ und „Vernunft“ werden sie sogar als kontraproduktiv zu Politik platziert. Diese Werte wurden im Rahmen der europäischen Aufklärung primär erarbeitet, um Volksgruppen in zivilisiert und unzivilisiert zu kategorisieren, um Kolonisation und Ausbeutung zu rechtfertigen. Heute haben sie weiterhin den Effekt, die Opfer dieser Kolonisierung und Ausbeutung, sowie ihre emotionale Reaktion auf diese Umstände, als unvernünftig und irrational zu framen. Emotionen sind unpolitisch, eine emotionale Reaktion auf Politik ist von der imperialistischen Gesellschaft also nicht vorgesehen und wird abgelehnt.

Dieses Gemenge an neoliberaler Individualisierung, Depolitisierung und Irrationalisierung von Emotionen sorgt dafür, warum melancholische Weltschmerzmusik oft die Form von diffusem, persönlichem, imperialistischem Unwohlsein, statt konkreter Wut auf spezifische Lebensumstände annimmt. Es ist der Grund, warum Morrissey über traurige Partynächte statt Gangschießereien singt.

Eintragung ins Nichts – das sind wir
Unbemerkt und schon vergessen
Eintragung ins Nichts – verrat mir
Wer sollte uns vermissen
Die Welt in der wir leben
Wird zu Grunde gehen
Und ich hab nichts mehr zu verlier’n
Nur mein Glück und das sagt wir

Blumfeld – Eintragung ins Nichts

Blumfeld sollte meine perfekte Hassband sein, eine Gruppe von vier mittelalten Almans, die ihr Rockerimage subversiv durch gebügelte Hemden untergraben wollen, mit einem freigeistigen, lang- und schmierhaarigen Sänger, der wahrscheinlich zu Punkkonzerten geht und Schwarze Gäste fragt ob sie die Bad Brains kennen. Dennoch docke ich an ihre akustische Punkspielart mit interessanten Akkordfolgen an und ertrage dabei ihre pathetischen (aber gut gesungenen) Observationen zu Tod und Leben. Ihr Album Testament der Angst (2001) ist eine verzweifelte Anklage der „unreflektierten“ Gesellschaft, die Sänger Jochen Distelmeyer jedoch in seinen Texten durchschaut zu haben scheint: Den verworrenen Komplex aus Bürgerlichkeit, Neoliberalismus und Imperialismus bricht er salopp herunter auf den Songtitel Diktatur der Angepassten, wobei er sich selbst vermutlich als unangepasst sehen muss. Der Song Eintragung ins Nichts ist schließlich eine sehr schön gespielte Abhandlung der Sinnlosigkeit nicht nur des Lebens, sondern der Existenz. Diese absolut nihilistische Sicht der Dinge verneint die Möglichkeit eines schönen Lebens komplett und macht das revolutionäre Streben nach einer Verbesserung der Welt überflüssig.

Blumfelds explizite Behandlung philosophischer Themen lässt ihre Musik poetisch und intellektuell erscheinen, obwohl sie jeder gesellschaftsanalytischen Grundlage entbehrt. Der diffuse, ungelenkte Weltschmerz wird so, wie auch schon Die Leides des jungen Werther von Goethe, akademisiert und künstlerisch legitimiert. Während Schmerz unpolitisch und irrational ist, kann er durch imperialistische Akademik trotzdem intellektuell gemacht werden, was wir an den etablierten Forschungsfeldern Philosophie, Literatur und Kunst sehen. Künstlerischer Ausdruck, der mit Imperialismus vereinbar ist, wird aufgewertet und kapitalistisch erfolgreich.

Da strukturell verursachter Schmerz und dessen Ausdruck nicht mit Imperialismus vereinbar ist, wird er widerrum als ungebildet oder „ghetto“ wahrgenommen. Die meisten Musikgenres haben ihren Ursprung in neu erarbeiteten Spielarten von BIPOC, insbesondere Schwarzen Menschen, und waren oft ein Ausdruck von Protest. Von BIPOC etablierte (Protest-)Musik wird entweder imperialistisch durch weiße Musiker*innen angeeignet und intellektualisiert oder in ihrer Gänze als gefährlicher, unzivilisierter (Jugend-)Trend abgewertet, meistens sogar beides, je nach Ethnie einzelner Interpret*innen. Genres können also je nach Bedarf der imperialistischen Gesellschaft teilweise oder ganz aufgewertet, abgewertet, übernommen und umgeformt werden. Diese Zuschreibung von Intellektualität (und damit Wert) an ganze Genres verfestigt am Ende, welche Gesellschaftsschichten welche Musik machen und konsumieren, vollkommen ungeachtet des tatsächlichen intellektuellen oder emotionalen Inhalts. Das ist der Grund, warum Brotha Lynch Hung über Gangschießereien statt über traurige Partynächte rappt.

Kids, die auf der Straße die Voddis kippen
Auf Kokalinien

Geben Fick auf Politik, denn
Was habt ihr schon für uns getan?
Wir stehen hier alleine ohne Plan

Fick euer Sklavensystem!

– Hanybal – Schöne neue Welt

Das Album Haramstufe Rot (2016) von Hanybal präsentiert eine wesentlich gehaltvollere Gesellschaftsanalyse als Blumfeld es jemals könnte. Ohne einen philosophischen oder ideologischen Vokabularkonsens zu bedienen (wie ich exzessiv in diesem Text) bringt er die Wut und die Ziellosigkeit einer unterdrückten Gesellschaftsschicht, braune Leute in Deutschland, auf gut gearbeitete Dark Atmospheric Trap Beats. Deutschrap wird durch die bereits abgehandelten Mechanismen vom deutschen Mainstream notorisch als ungebildet bis kriminell abgestempelt. Was „ungebildet und kriminell“ bedeutet, wird natürlich von der unterdrückenden Mehrheitsgesellschaft konstruiert und dann durch strukturelle Hürden verfestigt. Rap über Kriminalität und Drogenkonsum stößt die bürgerliche Gesellschaft ab und die klare Anklage der kapitalistischen Umstände („Sklavensystem“) als Ursache für diese greift ihre imperialistische Basis an. Wenn ich Hanybal höre, höre ich gleichzeitig Almans den Tonfall und Akzent brauner Rapper abwertend nachäffen. Almans können nicht auf den politischen Inhalt Hanybals hören, da sie bereits dazu konditioniert wurden, Deutschrap ungebildet und Hanybals Wut unpolitisch zu finden. Blumfeld dagegen wird mit paternalistischen Phrasen über die „unreflektierte Menschheit“ mitunter das Album des Jahres 2001 zugeschrieben.

In einer imperialistischen Gesellschaft haben die wenigsten Menschen wirklich Spaß, selbst unter weißen cis Männern, doch die künstlerische und intellektuelle Aufwertung ihres Schmerzes findet nur im Zusammenspiel mit Unterdrückung statt. Selbst in ihrer Kunst können es sich die wenigsten Unterdrückten leisten, sich ungelenktem Selbstmitleid ohne Adressat hinzugeben, da ihr Schmerz und ihre Wut strukturell verursacht ist. Solang die Gesellschaft kein Interesse an revolutionärer Veränderung der kapitalistischen Umstände hat, werden diese kapitalistischen Umstände weiterhin den Ausdruck unserer Kunst bestimmen. Solang es Kapitalismus gibt, wird er Kunst fressen, und die Kunst der Unterdrückten wird sich wehren.


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