Zerfleischt die Linke sich selbst?
Posted: Dezember 30th, 2021 | Author: garamsalami | Filed under: Essay, Politik | Tags: analyse, diskurs, faschismus, imperialismus, individualismus, innerlinker konflikt, leftist infighting, linke grabenkämpfte, selbstreflexion | No Comments »Bürgerliche und weiße Linke wiederholen ohne Ermüdung immer wieder das Argument, die Linke würde sich selbst zerfleischen, während eine fiktive rechte Einigkeit herbeifantasiert wird. Sollten wir uns also an Nazis ein Beispiel nehmen?
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„Die Linke zerfleischt sich wieder mal selbst“, kommentiert Hans-Peter, 38, unter einem Tweet der Grünen und kassiert massig Likes. Es ging ums Gendern, oder um einen Rassismusvorwurf, keine Ahnung mehr. Es ist beinahe unmöglich, eine Diskussion unter Linken in Sozialen Medien zu führen, ohne dass diese Floskel der Selbstzerfleischung eingebracht wird, um zu linker Einigkeit zu mahnen und Meinungsverschiedenheiten als aktive Bedrohung für Antifaschismus darzustellen. Zwar sind Diskurse in Sozialen Medien verschwendete Lebenszeit, doch trotzdem bin ich ein Verfechter davon, sie zu analysieren, da sie trotz allem ein Ausdruck der Gesellschaft sind, in der sie geführt werden. Ich werde also nicht versuchen, Propheten der Selbstzerfleischung von ihrem Fehlglauben zu überzeugen, sondern das Gelaber von „linker Selbstzerfleischung“ als Symptom ihrer ideologischen Unzuverlässigkeit zu enttarnen. Die Linke zerfleischt sich nicht selbst, ihr seid nur nicht so links wie ihr denkt.
Wer ist Schuld am „linken Versagen“?
Sowohl bürgerliche als auch radikale linke Bewegungen sind absolut besessen davon, diese Frage zu beantworten. Das Scheitern früherer linker Bewegungen wird immer durch die Linse der Schuldfrage analysiert. Probleme scheinen gelöst, sobald eine schuldige Person oder Ideologie gefunden wurde, denn jetzt kann man es ja besser machen. Anarchist*innen sind schuld am Verlust des Spanischen Bürgerkrieg, Antideutsche haben den Golfkrieg gestartet, Queerfeminismus hat die Arbeiterklasse nach Rechts gedrängt. Diese Denkweise verschafft Befriedigung und den Anschein einer historisch-materialistisch fundierten Analyse, jedoch setzt das Fragen der Schuldfrage bereits den Unwillen vorraus, auf Fehlersuche bei den „Unschuldigen“ zu gehen. Die „Inkompetenz“ einer verachteten linken Ideologie wird als einziger Faktor im Scheitern einer anderen bevorzugten linken Ideologie benannt, die bevorzugte Ideologie hätte also unter Abwesenheit der verachteten Ideologie Erfolg haben müssen.
Das Scheitern früherer linker Bewegungen und Ideologien ist schmerzhaft, jedoch auch eine Chance der Analyse und Reflexion, wie wir es in Zukunft besser machen können. Meinungen und Ideologien, die wir für konterrevolutionär halten, müssen wir immer als Symptom unserer imperialistischen Gesellschaft statt als individualistischen Fehlschlag einzelner Personen oder Gruppen verstehen, um ihnen entgegenwirken zu können. Sollten wir durch unsere materialistische Analyse also tatsächliche Fehler und „Schuldige“ finden, sollten wir uns nicht darauf ausruhen, sondern analysieren, was sie zu diesen Fehlern geführt hat. Durch das präventive Stellen der Schuldfrage blenden wir uns selbst vor neuen Möglichkeiten, alte Ansätze neu zu denken. Benennen wir nur Schuldige, die an unserem Scheitern schuld sind, müssen wir uns nicht ändern. Die linke Schuldsuche ist also ein klares Hindernis zur Selbstreflexion.
Unsolidarischer Pessimismus
Materialistische Fehleranalyse früherer Bewegungen schön und gut, doch der Vorwurf der linken Selbstzerfleischung kommt häufig gerade aus bürgerlichen Lagern, die gar keine strukturelle Imperialismusanalyse haben. Wer auf linke Einigkeit hofft, definiert sein Linkssein über die Zugehörigkeit zu einer Mehrheit, die ja gegen Nazis sei. Auch radikale Linke tappen häufig in diese Falle, wenn ihr Aktivismus sich zu sehr im irrationalen Streben nach Mehrheiten verfängt. Dieses Weltbild kann der Realität, dass die Gesellschaft in imperialistische Widersprüche verheddert ist und kein Interesse an Antifaschismus hat, nicht standhalten. Das Benennen dieser imperialistischen Widersprüche wird von Linken also als Bedrohung und Aushöhlung ihrer fiktiven Mehrheit angesehen. Sie sind unfähig zu verstehen, dass Analyse und Selbstreflexion, welche Diskurs und Meinungsverschiedenheit bedürfen, der Weg zu einer stabilen Bewegung sind. Ohne dieses Verständnis sehen sie das Führen von ideologischen Diskussionen als sinnlose und gefährliche Prioritätenlosigkeit. Stattdessen laufen sie sogar Gefahr, den „Erfolg“ des Faschismus, eine imperialistische Mehrheit zu mobilisieren, als Vorzug zu sehen.
Ohne eine strukturelle Analyse läuft auch der Aktivismus dieser „Mehrheits-Linken“ unweigerlich ins Leere, was kombiniert mit der wahrgenommenen Streitsucht anderer Linker zu einem enormen Gefühl der Hilflosigkeit und des Pessimismus führen muss. Die „bürgerlich linke Mehrheit“ ist zum Scheitern verurteilt, eine Realisation die mittlerweile sogar bei ihnen selbst einsetzen muss. Da sie jedoch häufig am Ende nicht die Leidtragenden dieses Scheiterns sein werden, ist für sie keine Selbstreflexion oder Veränderung ihrer politischen Arbeit notwendig. Stattdessen flüchten sie sich bereits jetzt in Ausreden und Schuldzuweisungen, um präventiv keine Verantwortung für eine Wiederkehr des Faschismus tragen zu müssen. Schuld ist keine ferhlerhafte Analyse und ziellose Praxis, sondern „linke Grabenkämpfe“.
Dass sich diese Schuldzuweisungen meist gegen politische Analysen unterdrückter Menschen und potentielle Opfer dieses Faschismus richten, ist dabei kein Zufall. Ohne ein Verständnis imperialistischer Unterdrückungsstrukturen ist es europäischen Linken unmöglich, ihre eigene Rolle als Unterdrücker*innen zu reflektieren. Ohne diese Selbstreflexion sind sie vollkommen wehrlos ihren rassistischen, misogynen, queerfeindlichen und ableistischen Beißreflexen ausgeliefert, die sie schon seit frühester Kindheit erlernt haben. Es ist ihnen unmöglich die Kausalität zu erkennen, warum gerade Meinungen und Positionen unterdrückter Menschen sie so wütend machen. Kritik an ihrer Reproduktion unterdrückerischer Machtgefälle sehen sie wiederrum als feindseligen Angriff auf ihre wankende Mehrheitsidee.
Ausblick
In einer imperialistischen Welt, die Linke immer wieder in die Defensive zwingt, ist es essentiell, nicht dort zu verteidigen, wo verbessert werden müsste. Linke Uneinigkeiten, egal auf welcher Seite wir stehen, müssen als Symptom unserer Gesellschaft erkannt und adressiert werden. Selbst wenn wir der Meinung sind, objektiv Fehler bei anderen zu erkennen, müssen wir verstehen, woher diese Fehler kommen, um diese Fehler statt die Menschen zu bekämpfen. Blocken wir jede Meinungsverschiedenheit und Kritik ab, verneinen wir den Einfluss der Gesellschaft auf uns und die Notwendigkeit, diesen Einfluss zu reflektieren. Wie wir Diskussionen führen und Problemlösungen finden ist kein exklusiv linkes, sondern ein gesellschaftliches Problem, also lasst es nicht mit schwachen Floskeln wie „Die Linke zerfleischt sich selbst“ zu einem linken Problem machen.
Die Jagd nach Mehrheiten ist immer ein Ausdruck kapitalistischen Individualismus, der uns hoffen lässt nur durch personelle Überzahl statt ideologischer Stabilität einen wahrgenommenen Feind überwinden zu können. In einer imperialistischen Gesellschaft können wir nur Mehrheiten bilden, wenn wir den Imperialismus dieser Gesellschaft nicht adressieren. Darum erscheint weißen Linken eine Imperialismusanalyse als Bedrohung. Wer sich jedoch weigert, Imperialismus zu benennen, wird ihn niemals bekämpfen und sich am Ende sogar mit ihm gemein machen. Am Ende wird es für europäische, imperialistische Linke eine logische Entscheidung werden, sich der größten Mehrheit anzuschließen: Dem Faschismus, denn die sind sich ja einig.
Wir dürfen Ideologie nicht unter die Räder der Mehrheit kommen lassen. Eine Massenbewegung entsteht nicht durch das Aufnehmen imperialistischer Interessen in unsere Ideologie, unsere Ideologie muss den Massen zeigen, dass der Imperialismus bekämpft werden muss und kann. Verneinen wir antiimperialistische Standpunkte, um damit Imperialist*innen nicht von unseren Bewegungen abzuschrecken, können wir es auch gleich lassen. Wenn ihr zur Mehrheit gehören wollt, wählt CDU. Wir sind keine Mehrheit, wir müssen die Mehrheit von unserer Ideologie überzeugen, aber dafür müssen wir an uns und unserer Ideologie arbeiten, und das erfordert Diskurs. Wir sind nicht unfehlbar und Diskurs ist keine Selbstzerfleischung.