„Das rote Buch war nur Maos Tweetsammlung“ – @garamsalami

Wer hat das Open World Game ermordet?

Posted: März 20th, 2022 | Author: | Filed under: Essay, Videospiele | Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , | No Comments »

Die Etablierung von Videospielen als Massenmedium hat sich genau über meine Lebenszeit abgespielt. Waren meine Kindheitsvorstellungen von dieser Entwicklung naiv?

Lesezeit: ~10 Minuten
Content Notes: Videospielgewalt, Amoklauf
Erwähnte Medien: Grand Theft Auto-Serie, Deus Ex, System Shock, Thief, Postal 2, Watch Dogs, Cyberpunk 2077, Gone Home, Disco Elysium

Wie es dazu kommen konnte bleibt eher ein Thema für meine nächste Psychotherapie, aber als etwa 10-Jähriger spielte ich das erste Mal Grand Theft Auto San Andreas (2004) auf meiner Playstation 2 die meine Eltern mir gekauft hatten, weil sie dachten meine Videospiele machen den Familien-PC langsam. Wahrscheinlich bis heute bleibt es in reinen Spielstunden mein meistgespieltes Videospiel, das ich über die letzten 15 Jahre immer wieder und zuletzt erst vor einigen Monaten durchgespielt habe. GTA San Andreas war mein erstes Open World Game und hat meine Vorstellungen maßgeblich geformt, wie das Genre funktioniert: Ein Charakter kann uneingeschränkt eine Spielwelt erforschen und mit dieser in scheinbar unbegrenzten Wegen interagieren, worauf die Spielwelt reagiert. Auch als naives Kind habe ich bereits wahrgenommen, dass die Möglichkeiten von GTA San Andreas durch den Stand der Technik limitiert waren und das Spiel deshalb nicht in der Lage war, eine lebensechte Stadt zu simulieren. Ebenfalls kindlich naiv habe ich mir jedoch vorgestellt, wie ein GTA der Zukunft aussehen könnte: Wird jedes Gebäude betretbar sein? Wird jede Person in der Spielwelt dauerhaft existieren, einen Wohnort, einen Job und eine Routine haben? Was, wenn die Polizei nicht abstrakt um die nächste Straßenecke gespawned wird, sondern tatsächlich dauerhaft auf der Karte patrouilliert und eine tatsächliche Reaktion auf die Spielfigur mobilisieren muss? Was, wenn für jede umgefahrene Laterne eine Reparaturfirma vorbeikommen und diese reparieren muss?

Auch professionelle Videospielentwickler*innen teilen meine Kindheitsfantasien: Warren Spector, verantwortlich unter anderem für den ebenfalls von mir geliebten Meilenstein Deus Ex (2000), beschreibt sein Traumspiel als ein „One City Block Role Playing Game“, das einen einzigen Straßenblock, die darin lebenden Personen und ihre Interaktionen bis ins penibelste Detail simulieren soll. Jedoch hat er, seitdem er 2013 von Disney für das Floppen zweier Micky Mouse Games gefeuert wurde, keine Spiele mehr veröffentlicht. Noch 2017 äußerte er aber, er würde an dieser Idee arbeiten, würde er das Budget erhalten. Ob er dieses Budget jemals bekommen wird, steht in den kapitalistischen Sternen der Marktforschung, doch mit seiner Mitbegründung des Genres der Immersive Simulations mit Games wie Deus Ex, System Shock und Thief, hat er bereits um den Jahrtausendwechsel herum den Grundstein für eine Gamedesignphilosophie gelegt, die auf Details statt Größe setzt. Während Videospiele zu dieser Zeit oft über eine reine Reduktion auf Gameplaysysteme funktioniert haben, bemühten sich Immersive Simulation Games um glaubwürdige Spielwelten mit vielfältigen Interaktionen. Wer wie abgeschossen wurde und wofür es Punkte gab waren niemals Selbstzweck, sondern dienten immer als Mittel der Verbindung zwischen Spieler*in und Spielwelt.

Deus Ex ist von den klassischen Immersive Simulations die, welche ich am meisten gespielt habe und am besten kenne. Obwohl die tatsächlichen Spielmechaniken des Kämpfens, Schleichens und Erkundens kaum dem Test der Zeit standgehalten haben, bleibt mir die Spielwelt als sehr glaubwürdig im Kopf, wobei hier nicht die Nostalgie aus mir spricht, da ich Deus Ex das erste Mal als Erwachsener durchgespielt habe. Auch wenn die Levelabfolge und Handlung relativ linear abläuft, sind diese Levels aufgebaut wie echte Orte, deren Räume einen Zweck erfüllen, bewohnt von Charakteren, die nachvollziehbare Motivationen haben, dort zu sein. Bis heute scheitern Entwickler*innen daran, ihre Spiele so zu gestalten, statt die Levels zu abstrakten Schläuchen verkommen zu lassen, gefüllt mit Gegenständen, die den Anschein eines echten Ortes nur schemenhaft wecken sollen.

Warren Spectors Idee des One City Block Role Playing Games lässt sich als Gegenfantasie dazu verstehen, wie Videospiele sich in den letzten 20 Jahren stattdessen entwickelt haben. In unserer Welt sind Videospiele riesige, profitable Massenprodukte, die Markttrends und Marketingziele erfüllen müssen. Da wir im Kapitalismus leben, übernehmen Videospiele unweigerlich das kapitalistische Mindset von ungebremstem Wachstum an Inhalten. Grafik wird immer detaillierter und Spielwelten flächenmäßig immer größer, was unweigerlich mit immer höherem Arbeitsaufwand verbunden ist. Da Arbeitsaufwand für maximalen Profit minimal gehalten werden muss, bleiben deshalb Arbeiten auf der Strecke, die sich nicht in Marketing integrieren lassen. Ein manuelles Beleben der riesigen Spielwelten ist selbst mit den Megabudgets der großen Studios nicht mehr zu verwirklichen, weshalb Videospiele stattdessen zunehmend mit zufallsgeneriertem, kopiertem und remixed Content gefüllt werden. Warren Spector nannte diese Art von Gamedesign in einem Interview „as wide as an ocean, as deep as a puddle“. Stattdessen zielt seine One City Block Role Playing Game Idee auf das exakte Gegenteil dieser Designmethode ab: Limitierte Größe, maximales Detail.

So ungern ich das zugebe, aber wahrscheinlich mein liebstes Beispiel für diese Philosophie bildet der Edgelord Simulator Postal 2 (2003), dessen erklärtes Ziel es ist, Spieler*innen in einer offenen Spielwelt durch gezielte Provokationen und frustrierende Spielmechaniken zum Amoklauf gegen Zivilist*innen zu bewegen. Das Spiel kann in der Theorie komplett friedlich und pazifistisch durchgespielt werden, doch wird die Spielfigur in immer absurdere Situationen geworfen, welche den (exzessiven) Gebrauch von Gewalt attraktiv machen sollen. Das Studio hinter Postal 2, Running With Scissors, rühmt sich seit jeher mit seiner Unabhängigkeit von Konventionen der Videospielindustrie, bis hin zum pubertären, nihilistischen Nonkonformismus, doch so wenig ich es ihnen gönne, äußert sich das in einem Design fast schon nach Warren Spectors Vorstellungen. Die Inspiration, ein kontroverseres GTA 3 (2001) zu machen, ist offensichtlich, doch sie waren sich ihrer Limitierungen als kleineres Studio perfekt bewusst und haben ihre Prioritäten perfekt gesetzt. Die Spielwelt von Postal 2 ist vergleichsweise klein, doch so wie ich es mir in meiner kindlichen Naivität von GTA San Andreas gewünscht hätte, ist jedes Gebäude betretbar, erfüllt (bis auf einige Ausnahmen für langgezogene Schießereien) einen glaubwürdigen Zweck und macht gerade deshalb Spaß zu erkunden. An jeder Ecke von Postal 2‘s Spielwelt warten versteckte Geheimnisse, mal witzig, mal absurd, mal sogar beeindruckend. Diese Jagd nach Geheimnissen, die dort von echten Menschen mit einer Intention und dem Risiko, dass sie niemals jemand entdeckt, platziert wurden, sind für mich bis heute der Grund, warum ich bestimmt mehr als 10x so viel Zeit mit diesem Game verbracht habe, als die Story eigentlich dauert.

Auch Postal 2 wurde sicherlich mit Kapitalinteressen programmiert und der Außenseiterstatus der Entwickler*innen für Marketing genutzt, doch gibt dieses von Marktforschung, Investor*innen und Firmenvorständen relativ unberührte Produkt eine Vorstellung davon, wie Videospiele in einem Paralleluniversum aussehen könnten. Warum das große, flache gegen das kleine, tiefe Videospiel gewonnen hat, ist eine unmittelbare Konsequenz von Marktwirtschaft und spiegelt sich in anderen Medien wieder. Die größten Hollywood-Filmproduktionen remixen Bekanntes für den sichersten Profit bei unriskantestem Arbeitsaufwand, während kreative Ideen kleineren unabhängigen Produktionen überlassen bleiben, die jedoch oft nicht die Mittel haben, diese Ideen kompromislos umsetzen. Nur selten schafft es so eine kleine Produktion erfolgreich zu werden, worauf ihre Werte und Philosophien sofort in den ewigen Mixer des Mainstreams geworfen werden. Exakt das selbe passiert in der, im Vergleich zu Filmen noch in der Kindheit steckenden, Videospielindustrie.

Mittlerweile ist die Technik wahrscheinlich soweit, dass jede gut durchdachte und geplante Videospielidee in der Theorie wahrscheinlich umsetzbar wäre. Würde ein GTA San Andreas heute erscheinen, wäre es technisch möglich, jedes Gebäude betretbar zu machen und eine Spielwelt zu erstellen, die sich dauerhaft mit den Handlungen der Spielenden verändert. Aus einer kapitalistischen Sicht würde sich so ein Projekt jedoch kaum lohnen. Als rein profitable Überlegung macht es keinen Sinn, Spieler*innen eine selbstbestimmte Erkundung einer glaubwürdigen Spielwelt zu überlassen, denn dadurch werden sie unweigerlich Content verpassen, der in den riesigen aber kaum manuell zu füllenden Welten moderner Videospiele immer teurer zu erstellen wird. Warum also die Mühe in Geheimnisse und Entdeckungen stecken, welche die Mehrheit der Konsument*innen verpassen könnte, und die sich aufgrund ihrer Natur als Geheimnisse nicht ins Marketing integrieren lassen.

Videospiele scheinen so flach, weil alle ihre Ideen, Systeme und Werte auf einen Blick sichtbar sind. Marketingsprache hat es perfektioniert, uns alle Features und Gimmicks eines Videospiels unverhüllt vor die Nase zu halten, doch dabei unsere kindlichen Vorstellungen und Erwartungen anzuregen, was möglich sein müsste. Die massiven Enttäuschungen und Flops von heiß erwarteten Open-World-Games wie z.B. Watch Dogs (2014) oder zuletzt Cyberpunk 2077 (2020), welche in kaum spielbaren Zuständen erschienen, zeigen den Kollaps der überarbeiteten Entwickler*innen unter ihren eigenen Marketingabteilungen. Die Produktion eines Videospiels ist eine Symbiose aus digitaler Technik und menschlicher Kreativität und die Kreativität kann schon lange nicht mehr mit der Technik mithalten. Kaum ein großes Videospiel, egal ob es schließlich die Erwartungen erfüllt oder nicht, erscheint mehr ohne 100-Stunden-Arbeitswochen der Entwickler*innen und Berichte über toxisches Arbeitsklima. Es macht aus Kapitalinteressen also keinen Sinn mehr kleine, detailverliebte Videospiele zu machen, doch ist Gamedesign ohnehin ein ausbeuterischer Beruf geworden, der durch seine Strukturen wohl kaum mehr Kreativität zulassen kann.

Der Remix für Open World Games heute ist klar: Die Spieler*innen erledigen automatisch generierte Missionen auf einer riesigen, vielleicht gut aussehenden aber leeren Karte, sammeln dabei Ressourcen und Erfahrungspunkte, um damit ihre Ausrüstung und Fähigkeiten zu verbessern, um damit mehr automatisch generierte Missionen erfüllen zu können. Diese Spiele sind unmittelbar für einen Massenmarkt an Konsument*innen ausgelegt, welche sich nach Marketing für ein einziges 70€-Videospiel entscheiden, welches sie die nächsten Monate nach ihrer ausbeuterischen Lohnarbeit spielen werden. Je länger das Spiel durch seinen automatisierten Content dauert, desto mehr freut sich die Marketingabteilung über eine große Spielstundenzahl, mit der sie werben kann. So zynisch ich diese Art Videospiel gerade auch beschreibe, sind sie oft kompetentes und solides Entertainment, wie ihre Disney- und Marvel-Analogien im Filmgeschäft, doch ich kann meine kindlichen Fantasien von den Videospielen der Zukunft und die Hoffnung auf ein One City Block Role Playing Game nicht abschütteln.

Wie aus meiner Analogie der Filmindustrie bleiben kreative Gegenentwürfe kleineren Studios überlassen: Gone Home (2013) ist ein sehr spannendes (und queeres) Abenteuer, welches in einem einzigen Haus spielt, wo sich jedoch jeder einzelne Schrank und jede Schublade öffnen und durchsuchen lässt. Da die Entwickler*innen, das Studio Fullbright, nur über begrenzte Mittel verfügten, ist die Beschränkung auf ein einziges Haus als Schauplatz zwar einerseits als interessantes (und gelungenes) Experiment zu sehen, jedoch auch als Eingeständnis der eigenen Beschränkungen. Dieses eine Haus so detailliert und glaubwürdig zu füllen, muss das kleine Team wahrscheinlich ähnlich an seine Grenzen getrieben haben, wie größere Teams unter dem Gewicht ihrer riesigen Welten leiden. Disco Elysium (2019) beschränkt sich in seiner Krimi-Handlung auf einen einzigen Stadtteil, versucht jedoch auch in diesem allen Bewohner*innen eine Persönlichkeit, Motivationen und Routine zu geben. Auch thematisch befasst das Spiel sich mit Polizei, Kommunismus, Kapitalismus und Faschismus auf eine Weise, die sich von einem großen, vorstandsabgenickten Videospiel nicht erwarten lässt. Dennoch zeigt sich auch in einigen technischen Problemen des Spiels, dass nicht genug Zeit und Ressourcen für die Entwickler*innen verfügbar waren, ihre komplexen Ideen sauber umzusetzen. Auch wenn der Wille für neue Designphilosophien da ist, müssen kleinere Studios am Ende aufgrund ihrer wirtschaftlich schlechteren Stellung ebenfalls Kompromisse eingehen, welche die private, unabhängige Entwicklung eines One City Block RPGs unwahrscheinlich machen.

Grand Theft Auto 5 (2013), der neueste Teil der GTA-Reihe, ist das finanziell erfolgreichste Entertainmentprodukt aller Zeiten, profitabler als jedes Buch, jeder Film und jedes Musikalbum der Menschheitsgeschichte. Trotzdem habe ich es kaum einen Bruchtteil so lang wie GTA San Andreas gespielt, weil die Subversion meiner Kindheitsfantasien durch Kapitalismus mich zu einem verbitterten Erwachsenen gemacht hat. Die Spielwelt von GTA 5 ist um ein Vielfaches größer als die von GTA San Andreas, doch hat mich nie das Verlangen nach Erkundung gepackt. Jeder erkundenswerte Ort wird vom Spiel selbst ins Zentrum gestellt und ich kann mich an keine selbstbestimmte Entdeckung oder Aha-Momente erinnern, welche mir nicht von den Entwickler*innen vorgekaut wurden. Dass die Philosophie von maximaler Größe ohne Tiefe sich hier finanziell so gelohnt hat, gibt der Videospielindustrie auch keinen Grund zum Umdenken, und keinen Grund, jemals das Risiko von Warren Spectors One City Block Role Playing Game einzugehen.


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