„Das rote Buch war nur Maos Tweetsammlung“ – @garamsalami

Leben mit Covid – Eine Gesellschaft gibt auf

Posted: März 30th, 2022 | Author: | Filed under: Essay, Politik | Tags: , , , , , , , , , , , | No Comments »

Warum sind wir so cool damit, dass die deutsche Regierung bei den bisher höchsten Infektionszahlen alle Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung beendet? Und warum macht mich das so fertig?

Content Notes: Pandemie, Krankheit, Tod, Alkohol, Drogen, Einsamkeit, Selbstschädigung, intellektualisiertes Selbstmitleid
Lesezeit: ~5 Minuten

Revolutionäre Analyse und Theorie lebt von dem Verständnis, dass Menschen ihre Entscheidungen anhand ihrer materiellen Umstände statt unveränderbarer Werte und Instinkte treffen. Umstände und Werte müssen adressiert und verändert werden, um Menschen und ihre Entscheidungen zu ändern. Wie alle Menschen, die auf eine Revolution hinarbeiten, erwische ich mich immer wieder beim nihilistischen Resignieren und der Hingabe zum Glauben, dass wir alle verloren seien. Diese temporäre Selbstaufgabe meiner revolutionären Ansprüche und Ideen ist ein Spiegel der Selbstaufgabe, die ich angesichts der Pandemie gerade in der kompletten Gesellschaft beobachte: Ungeachtet unberechenbarer gesundheitlicher Folgen für sich selbst und ihr Umfeld gehen Leute bei den bisher höchsten Infektionszahlen der Pandemie als Ausgleich zur Lohnarbeit am Wochenende dicht gedrängt und schwitzend ohne Hygienemaßnahmen feiern, als würden wir uns nicht mehr mit einem hochansteckenden und potentiell tödlichen Virus mit unabsehbaren Langzeitfolgen anatmen, gegen das Menschen kaum bis keine anhaltende Immunität aufbauen. Meine sozialen Medien sind wieder gefüllt mit Werbung für Events, zu denen ich von Freund*innen eingeladen werde, welche ich eigentlich für vernünftig halte.

Diese scheinbare gesamtgesellschaftliche Aufgabe der eigenen Selbsterhaltung, wie sie auch immer wieder in Form von Krieg und Klimakatastrophe zu sehen ist, lässt mich immer wieder verzweifeln und an die Unvermeidbarkeit unseres kollektiven Untergangs glauben. Gleichzeitig zweifle ich an meinem eigenen Verstand, dass ich mich wie ein irrationaler Panikmacher fühle, gerade weil ich Menschen dieser Selbstaufgabe für den Kapitalismus verfallen sehe, denen ich eigentlich vertraue. Meine Angst vor der Pandemie und fortgesetztes Social Distancing sind von der Wissenschaft gestützt, doch meine Verzweiflung, so verständlich wie sie hoffentlich angesichts einer globalen Katastrophe ist, sollte ich durch ein ständiges Neubesinnen auf revolutionäre Analyse kontrollieren können.

Dass Menschen in einer Pandemie Party machen gehen, ist Konsequenz eines nachvollziehbaren Bedürfnisses nach Freizeit und Gemeinschaft, für das wir in 2 Jahren keinen Ersatz gefunden haben. Schon immer hat Kapitalismus von einem Widerspruch zwischen Freizeit und Arbeitszeit gelebt, bei dem wir nie so viel genießen und entspannen können, wie wir es bräuchten. So werden wir gezwungen, an unsere Freizeit ähnliche Effektivitätsansprüche wie an unsere Lohnarbeit zu stellen. Jede Minute feiern, genießen, entspannen, muss sich „lohnen“. Durch Drogenkonsum und Begrenzung unseres Schlafes versuchen wir unsere Freizeit länger und intensiver zu gestalten, was unserer Gesundheit schadet. Kommt unsere Freizeit zu kurz und wir haben nicht ausreichend Ausgleich zum kapitalistischen Alltag, werden wir durch einen dauernden Stresszustand psychisch krank. So zwingt uns Kapitalismus, auch lange vor der Pandemie schon, in einen Widerspruch aus Arbeit und Gesundheit, der jetzt nur intensiviert wurde.

So ist feiern trotz Covid eigentlich nur eine natürliche Entwicklung von Prozessen, die schon vor der Pandemie existiert haben. Wer im Club auf Alkohol, Drogen und Schlafmangel dehydriert und sein Gehör killt, um im kapitalistischen Alltag ein vages Gefühl von Erregung und Ausgleich zu erleben, geht mit der Infektionsgefahr nur ein weiteres, kalkulierbares Risiko ein. Nach 2 Jahren kollektivem Trauma, wo Lohnarbeit weiter erzwungen war, doch Wege zur Freizeitgestaltung massiv beschränkt bis nicht mehr existent waren, kann ich niemandem mehr Übel nehmen, diese selbstbestimmte Entscheidung zur Selbstzerstörung zu treffen.

Der Nihilismus, die Resignation und Selbstaufgabe der Bevölkerung in Krisenzeiten ist unmittelbar eine Konsequenz der Verantwortungslosigkeit imperialistischer und neoliberaler Regierungen, deren Handlungen ihrer Kommunikation zuwiderlaufen. Wo Rücksichtnahme und Solidarität gepredigt wird, geht es um Rücksichtnahme und Solidarität mit der Wirtschaft. Während Pandemiemaßnahmen gerade zu Beginn massiv ins Privatleben eingeschnitten haben, wurde alles dafür getan, jegliche Lohnarbeit möglichst lückenlos am Laufen zu halten. Sich zu 5 zu treffen war verboten und wurde auch im Privatleben verteufelt, während zu 50 im Büro oder der Fabrikhalle zu sitzen akzeptabel war. Ich bin überzeugt, dass die breite Bevölkerung mindestens unterbewusst diesen Widerspruch wahrgenommen hat, doch darauf irrational in Form von Resignation oder reaktionärer, verschwörungsideologischer „Rebellion“ reagiert, da uns strukturelle Analyse in unserer individualistischen Gesellschaft nicht anerzogen wird.

Während wir weiter ins Büro gingen, wurde uns jede Gemeinschaftlichkeit und Solidarität, nicht zuletzt mit Risikogruppen, aktiv genommen. Da uns im Privatleben die Verantwortung für das Infektionsgeschehen aufgedrückt wurde, trugen auch Individuen statt Strukturen die Schuld für die Ausbreitung des Virus. Während wir uns im Büro, im öffentlichen Nahverkehr oder beim Konsum im Einzelhandel gegenseitig ansteckten, misstrauten und attackierten wir uns gegenseitig für kleine, private Treffen und Feiern mit Hygienekonzept. So wurde kollektive Verantwortung auf Individuen übertragen, wie es im Neoliberalismus immer geschieht. Wir haben jedes kollektive Verantwortungsgefühl verloren, nicht zuletzt für uns selbst.

In der Krise sind wir isoliert, verzweifelt und Strukturen ausgeliefert, die uns für Profit opfern. Ich würde mir von der Gesellschaft Wut und Erwachen gegen diese Strukturen wünschen, doch Einsamkeit und Isolation sind kein Zustand, aus dem revolutionäres Verständnis erwächst. Wenn selbst Menschen wie ich, die sich der Revolution verschrieben fühlen, in diesen Zeiten ans Aufgeben denken, wie kann ich es Menschen übel nehmen, die in den kapitalistischen Umständen verloren sind, dass sie aus ihrer Verzweiflung heraus nicht zum Kommunismus finden?

So sehr wir uns der Konsequenzen noch nicht bewusst sind und sein können, ist eine globale Katastrophe mit vielen Toten, gegen die wir uns machtlos fühlen, ein Trauma für jeden einzelnen Menschen auf dieser Erde. Gerade in diesen Zeiten bräuchten wir Solidarität, Gemeinschaft und ein Verantwortungsgefühl füreinander, die jedoch unter die Räder der alles fressenden Wirtschaftsmaschine gekommen sind. Angesichts eines allgegenwärtigen Gefühls von Alternativlosigkeit bleibt wohl vielen Menschen nicht mehr übrig, als die hedonistische Selbstzerstörung, die im Kapitalismus ohnehin schon unvermeidbar war, zu intensivieren. Das macht mich traurig.

Einsamkeit, Isolation und Resignation sind Konsequenzen des Individualismus, der uns alle Verantwortung für unser eigenes Wohlergehen aufzwingt und durch Zeitmangel jede Verantwortung für die Gemeinschaft ausschließt. Hedonismus scheint unser einziger Ausweg. Dieser Individualisierung können wir nur mit neuen Konzepten von Gemeinschaftlichkeit, Verantwortlichkeit und Kollektivität begegnen. Wir müssen uns eingestehen, aber dabei verständnisvoll sein, dass wir dazu noch keine Wege gefunden haben. Prozesse zu finden, auszuhandeln und zu praktizieren, die uns zu einer starken, wirkmächtigen und hoffnungsvollen Bewegung machen, ist an sich bereits der revolutionäre Prozess. Ohne eine Veränderung unserer Werte und Prioritäten kriegen wir keine Revolution, aber die Revolution an sich wird unsere Werte und Prioritäten verändern. Wenn wir irgendwann die Panafrika-Flagge auf dem Reichstag schwenken, werden wir nicht mehr sagen können, ob das Huhn oder das Ei zuerst kam, aber wir werden unweigerlich gelernt haben unsere Freizeit gemeinschaftlicher, selbstbestimmter und verantwortlicher als bisher zu gestalten. Party vielleicht noch mit Covid, aber Outdoors mit Mindestabstand und ohne Zeitdruck.


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