Erziehungslager Jugendpsychiatrie
Posted: Dezember 10th, 2023 | Author: garamsalami | Filed under: Essay, Politik | Tags: gefängnis, jugendpsychiatrie, misshandlung, psychiatrie, strukturelle gewalt | No Comments »Lesezeit: ~10 Minuten
Content Notes: Psychiatrie, Suizid, Zitate Verstorbener, strukturelle Gewalt, Zwangsmaßnahmen, Misshandlung
Als ich das erste Mal in die Jugendpsychiatrie kam, bin ich 16 Jahre alt. Dort war ich auf einer “geschützten Station”, im allgemeinen Sprachgebrauch auch oft “Geschlossene” genannt. Da es sich dabei um eine freiheitsentziehende Zwangsmaßnahme handelte, führte ich nach ein paar Tagen ein Gespräch mit einem Richter, eine Standardprozedur. Dieser verfasst einen regulären „richterlichen Beschluss“, der aufgrund einer „Selbst- und/oder Fremgefährdung“ meine Unterbringung in der Klinik für 6 Wochen juristisch absegnete. Am Ende sollten es nur 5 Wochen werden, doch es waren die schlimmsten meines Lebens. Es war das Jahr 2012.
„Überall würde es mir besser gehen als hier. Ich zerbreche unter dem Druck der Macht, die Menschen hier über mich haben. Ich kann nirgendwo hin. Ich bin schutzlos und kann nicht fliehen, mich nicht wehren.“
Zitat aus meinem damaligen Tagebuch
Im Jahr 2014 erscheint das Buch „Diese Welt hat keinen Platz für mich – Wie ein Mädchen in der Psychiatrie zerbricht“, posthum unter dem Pseudonym „Marina“ veröffentlich. Sie hatte sich zwei Jahre zuvor, im Alter von 16 Jahren, genau so alt wie ich damals, nach Monaten der Tortur in mehreren Kliniken, das Leben genommen. Zuvor hatte sie ihre Psychiatrieerfahrungen verschriftlicht, die versehen mit einem Vor- und Nachwort der Eltern ein Bild von medizidischem Versagen zeichnen, das sich mit meinen eigenen Erfahrungen deckt.
„Und dann zu den Erwachsenen. Alleine. Angeschrien werden. Mich hat noch nie sonst jemand so angeschrien und ich war so verletztlich damals und ich […] konnte nichts dafür!“
Marina, „Diese Welt hat keinen Platz für mich“
Es ist 2017, als die ebenfalls 16-jährige „Anna“ in die Jugendpsychiatrie kommt. Jahre später erzählt sie dem Bayrischen Rundfunk von Isolation, Bestrafung, bis hin zu Misshandlungen. Sie muss in den „Time-Out-Raum“, wird immer wieder in ihr Zimmer gesperrt, Besuch wird ihr verweigert.
„Ich nenn’s Bestrafung, weil’s einfach eine Bestrafung für mich war. […] Dann ist zu mir gesagt worden, du darfst jetzt deine Mama heute nicht mehr sehen. Und das war für mich sehr schlimm, weil ich einfach an meiner Mama hänge.”
Anna in einer eidesstattlichen Versicherung an den Bayrischen Rundfunk
Meine Erinnerungen an meine Zeit in der Jugendpsychiatrie verblassen mit den Jahren. Gesichter und Namen verschwinden, einzelne Vorfälle kann ich nicht mehr zufriedenstellend rekonstruieren, doch was bleibt, ist das Gefühl der Hilfslosigkeit. In der verletzlichsten Zeit meines Lebens habe ich meine ersten Erfahrungen mit struktureller, juristisch abgesicherter Gewalt gemacht, vor der es kein Entkommen, keine Gegenwehr gibt. Auch wenn ich aufgrund meiner Volljährigkeit nie wieder in Gefahr bin, Opfer dieses Systems zu werden, lebe ich seit über 10 Jahren mit dem Wissen, dass anderen Menschen, nicht zuletzt Anna 2017, täglich die selbe Gewalt und Entmenschlichung widerfährt, die ich erfahren musste.
„Du kannst mehr Gruppenzeiten haben, wenn du uns unterschreibst, dass du dir nichts antust.“
Arztgespräch aus „Diese Welt hat keinen Platz für mich“
„… was passiert, wenn ich es breche?“
„Dann musst du einen Tag komplett im Zimmer bleiben.“
Eine „geschützte Station“ hat verschlossene Türen und in der Regel ein Schleusensystem, so dass zum Ausbrechen mindestens 2 Schlösser überwunden werden müssten. Durch verschiedene Maßnahmen wie Sicherheitssteckdosen, -fenster und Spezialbesteck und -geschirr sowie Überprüfung der Kleidung soll Selbstverletzung erschwert werden. Der Alltag ist strikt geregelt. Jeden Tag wird zur selben Uhrzeit gegessen, Zimmer- und Gemeinschaftszeiten sind verpflichtend für alle, jeden Tag müssen das Bett gemacht, der Schrank aufgeräumt und die Böden gefegt werden. Täglich zur selben Uhrzeit wird diese Ordnung überprüft und dabei nach verbotenen Gegenständen gesucht. Entzieht ein*e Patient*in sich diesem klaren Tagesablauf, wird kollektiv die ganze Gruppe bestraft: Als ich eines morgens nicht aufstehen wollte, durften die anderen Jugendlichen nicht frühstücken, um mich unter Druck zu setzen.
„Macht. Die Betreuer haben Macht. Und die nutzen sie.“
Mein damaliges Tagebuch
Außer zu den festgeschrieben Zimmerzeiten, die dem Einschluss im Gefängnis entsprechen, standen wir ständig unter direkter Überwachung durch Erwachsene. Ob beim Essen, Kartenspielen, Häkeln oder Fernsehen, es war immer ein*e „Betreuer*in“ dabei, die*der auf Einhaltung striker Gesprächsregeln achtete. Wir waren in der Regel im Alter von 12-17, also der tiefsten Pubertät, doch gerade Themen, die in diesem Alter interessant sind, wurden zensiert. Drogen, Sex, selbst Gefühle waren Tabuthemen, unter dem Vorwand, wir sollten uns gegenseitig nicht „triggern“. Das unstrukturierte Gesprächeführen, sogenanntes „Abhängen“, war ohnehin untersagt. Es musste im Gruppensetting immer einer gemeinsamen Ablenkung nachgegangen werden.
„Eine geschlossene Psychiatrie, jedenfalls auf den Stationen, die ich kenne, kann überhaupt nicht helfen. Sie sperrt ein, überwacht, bestraft und wartet ab.“
Marina, „Diese Welt hat keinen Platz für mich“
Patient*innen in der geschlossenen Jugendpsychiatrie befinden sich in Ausnahmezuständen, in denen sie entweder sterben wollen, in einem gefährlichen Maß von der Realität entrückt sind oder sogar gefährlich für andere. Um mit dadurch auftretenden Extremsituationen fertig zu werden, hat die Psychiatrie einige Werkzeuge: Das „mildeste“ Mittel ist häufig die Zimmerzeit, um eine Person entweder vor der Gruppe zu schützen oder andersherum. Die nächste Stufe ist der sogenannte „Time-Out-Raum“, der zwar nicht gepolstert ist, jedoch die Funktion der „Gummizelle“ aus der Popkultur erfüllt. Er ist leer und soll einer Person erlauben sich abzureagieren, ohne dabei sich selbst oder andere zu gefährden. Die heftigste Maßnahme ist die sogenannte „Fixierung“, bei welcher eine Person durch ein Gurtsystem in liegender Position bewegungsunfähig gemacht wird.
„Zur Beruhigung wird sie regelmäßig für mindestens zwei Stunden in einen sogenannten Time-Out-Raum gesperrt, so erzählt sie es, teilweise auch für die ganze Nacht – also in einen leeren Raum, der zugesperrt und kameraüberwacht ist. Zusätzlich muss Anna regelmäßig […] allein Zeit in ihrem Zimmer verbringen, wie sich die heute 20-Jährige erinnert. An manchen Tagen seien es bis zu sechs Stunden gewesen.“
Bayrischer Rundfunk
Immer wieder kommt es zu Konfrontationen zwischem dem Klinikpersonal und mir. In meinem Entlassbrief ist vermerkt, ich sei „leicht kränkbar“ gewesen, wenn meiner „Meinung widersprochen wurde“ und ich thematisiere „aus seiner Sicht ungerechte Behandlungen“. Ständig wurden wir Patient*innen für unser normales Verhalten und unsere Gesprächsthemen gemaßregelt, wobei psychiatrische Zwangsmaßnahmen wie Zimmerzeit und Time-Out-Raum, die eigentlich einer medizinischen Notwendigkeit unterliegen sollten, ständig als Drohungen in den Raum gestellt wurden, die kein Bluff waren. Immer wieder sahen wir Mitpatient*innen tagelang nicht, die sich entweder in einer akuten Krise befanden oder sich mit dem Team angelegt hatten.
„Der erste Psychiatriebericht, den das bayerische Gesundheitsministerium im vergangenen Jahr veröffentlicht hat, nennt „Zwangsmaßnahmen“ wie Isolation in Time-Out-Räumen, Fixierung oder andere therapeutische Interventionen gegen den Willen des Patienten die „Ultima Ratio“, weil sie „massiv in die Grundrechte der Betroffenen eingreifen und zudem die therapeutischen Beziehungen sehr belasten“.
Bayrischer Rundfunk
Psychiatrische Maßnahmen werden als Drohkulisse genutzt, das zwischenmenschliche Verhalten der Patient*innen gemaßregelt und immer wieder kommt es zu konkreten Misshandlungen. Anna berichtet, ihr sei zur Bestrafung alkoholhaltiges Desinfektionsmittel über die zerkratzten Hände gekippt worden, Marina wurde vom Personal angeschrien und ich selbst kann mich an eine Situation erinnern, wo in der Mitte eines leeren Raumes auf einem Stuhl sitzend von drei Erwachsenen aus mehreren Richtungen drohend auf mich eingeredet wurde, was keiner Behandlungsleitlinie entsprechen kann.
„Ich werde hier drinnen nicht beschützt. Ich werde dafür bestraft, dass ich so bin wie ich bin. Wir werden alle bestraft. Dinge, die selbstverständlich sind, werden uns als Belohnungen für gutes Verhalten suggeriert“
Mein damaliges Tagebuch
Es wird ein Zusammenhang zwischen der Erkrankung und dem Verhalten hergestellt: Das aktuelle Verhalten führt zur Erkrankung, es muss zur Heilung also mit Bestrafung korrigiert werden. Ausdrücke der Krankheit werden kriminalisiert, eine Lockerung von Zwangsmaßnahmen an eine Besserung unerwünschter Symptomatik geknüpft. Wer Suizidalität äußert, wird bestraft. Wer sich selbst verletzt, wird bestraft. Wer unangenehme Themen anspricht oder das eigene Leiden verbalisiert, wird bestraft. Wie einem Hund, der auf den Teppich pinkelt, soll den jugendlichen Patient*innen beigebracht werden, dass ihre Krankheit zu Bestrafung führt, eine Besserung ihrer Symptomatik zu Belohnungen wie Süßigkeiten oder mehr Besuchszeit.
„Du sollst es fühlen. Fühlen, dass es dir schlecht geht, wenn du suizidal bist. Fühlen, dass es dir schlecht geht, sobald sie sehen, dass du dich verletzt hast.“
Marina, „Diese Welt hat keinen Platz für mich“
Es gab eine lange Zeit, zu der ich mich nicht mehr mit meiner Vergangenheit in der Jugendpsychiatrie auseinandersetzen wollte. Sie liegt über 10 Jahre zurück, in denen ich mehr als genug andere Scheiße und weitere Psychiatrieaufenthalte, diesmal auf Erwachsenenstationen, erlebt habe, doch eine Frage lässt mich nicht los: Wieso? Durch Analyse kann ich mir die systematischen Ursachen von Polizeigewalt, Krieg und Imperialismus herleiten, die Täter*innen klar benennen, mir Strategien zur Besserung überlegen. Ich habe ein ganzes Manifest geschrieben, das für mich die meisten meiner Fragen zur Welt zufriedenstellend beantwortet, doch ich finde keine Antwort darauf, warum die verletzlichsten Wesen unserer Gesellschaft, Kinder in psychiatrischen Krisen, in schutzlosester Art und Weise durch eine staatliche Institution so misshandelt werden. Es erfüllt keinen Zweck, steigert keine Profite, es ist funktionslose Grausamkeit und Leid an den Rändern der Gesellschaft, zu denen niemand hinschaut.
„Der Arzt fragte unsere Tochter, ob sie möchte, dass wir sie weiter besuchen. Marina sagte Ja.
Marinas Mutter, „Diese Welt hat keinen Platz für mich“
Der Arzt sagte: „Vorraussetzung ist aber, dass du isst und trinkst.“ Da war es wieder, das berühmte, „es sich verdienen müssen“.“
Der Bayrische Rundfunk verblieb bei seiner Reportage dabei, dass sich die Vorwürfe nicht bestätigen ließen und nicht klar sei, ob es sich um Einzelfälle handelt, mittlerweile ist der Artikel sogar gelöscht. Anna, Marina und ich waren in unterschiedlichen Jugendpsychiatrien, doch die Erfahrungen decken sich. Was uns passiert ist, ist keine geheime Verschwörung, sondern öffentliche, soziale Kälte, welche Erwachsene in eine beispiellose Machtposition über auffällige und deshalb nicht glaubwürdige Jugendliche stellt.
„Andererseits halten auch mehrere Experten Behandlungsmethoden, wie sie Alisa, Anna und die Regensburger Betroffenen schildern, für glaubwürdig – allerdings nur hinter vorgehaltener Hand […]. Ins Mikrofon will das so niemand sagen.”
Bayrischer Rundfunk
Die Perfidität dieses Systems ist schwer zu durchblicken, ich selbst habe Jahre gebraucht, mir über die Ungerechtigkeit bewusst zu werden. Obwohl sie 2012 an mir selbst verübt wurde, ich direkt bei Erscheinen 2014 Marinas Buch gelesen und immer wieder Menschen mit den selben Geschichten kennengelernt habe, hat es über zehn Jahre gedauert, dass ich diese Erfahrungen strukturiert niederschreibe. Ich hatte gehofft, ich sei ein Einzelfall gewesen, vielleicht hätte die Psychiatrie sich in den vergangenen Jahren geändert, bis ich 2022 die Reportage des Bayrischen Rundfunks las, der diese Hoffnung zerschmetterte. All meine Erlebnisse, die Ungerechtigkeiten und Misshandlungen, die ich nur noch unspezifisch als Gefühlserinnerungen abrufen kann, kamen plötzlich als die journalistisch recherchierten Worte eines öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders zu mir zurück. Unwiderruflich lebe ich in dem Wissen, dass sich über einzelne Kliniken hinweg, überregional und mit Jahren Abstand die Geschichte meines Leids wiederholt, und ich will mit diesem Text ein Zeuge zu sein, dass Marinas Geschichte, Annas Geschichte, meine Geschichte, keine „Einzelfälle“ waren, aber hoffentlich irgendwann Vergangenheit werden dürfen.
„Ich mache mir keine Vorwürfe, ich hasse mich nicht, nein ich mag mich eigentlich und ich finde, dass ich meinen Traum verdient hätte…“
Marina, „Diese Welt hat keinen Platz für mich“
Quellen:
Marina, „Diese Welt hat keinen Platz für mich – Wie ein Mädchen in der Psychiatrie zerbricht“, edition fischer, ISBN: 978-3-89950-819-2
https://web.archive.org/web/20220802080828/https://www.br.de/nachrichten/bayern/wie-in-einer-erziehungsanstalt-vorwuerfe-gegen-bayerische-kjp,TCaLZsU (Zuletzt aufgerufen: 10.12.2023)
Mein damaliges Tagebuch, geschrieben in weichem Bleistift