Atombomben auf Deutschland?
Posted: Mai 15th, 2024 | Author: garamsalami | Filed under: Essay, Geschichte | Tags: atombombe, atomkraft, atomkrieg, kalter krieg, kernspaltung, krieg, radioaktivität, strahlung, wissenschaft | No Comments »Lesezeit: ~10 Min
Anmerkung: Dieser Text begann vor etwa einem Jahr als Kapitel meines Buchs „Leistungsverweigerung!“, fiel dann jedoch der notwendigen Kürzung zum Opfer, ohne die ich nie zur Veröffentlichung gekommen wäre. Gerade aufgrund der hohen Relevanz dieses spezifischen Themas für mich wollte ich dazu mehr Recherchieren, Nachdenken und Sagen, als sinnvoll in den Aufbau des Buchs gepasst hätte.
Kaum eine Erfindung hat die Menschheit wohl mehr verändert als die Entdeckung der Kernspaltung 1938, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die theoretische Erkenntnis, dass die Spaltung von Atomkernen Energie freisetzt, stürzte die damaligen Großmächte in ein wissenschaftliches und industrielles Wettrennen, dafür praktische Anwendungen zu finden. Schafft man es, mit der Kernspaltung eine Kettenreaktion auszulösen, wird damit ungeahnt viel mehr Hitze frei, als durch jeden anderen uns zugänglichen Prozess. Die meiste unserer Stromerzeugung funktioniert nach dem Prinzip, Wasser unter Einsatz verschiedener Brennstoffe wie etwa Gas, Öl oder Kohle zu erhitzen. Der dadurch entstehende Dampf treibt Turbinen an, deren Bewegungsenergie in elektrische Energie umgewandelt wird, wie bei einem Generator. So war die erste logische Anwendung von Kernspaltung, radioaktive Stoffe wie etwa Uran als Brennstoff einzusetzen, was ab 1942 mit dem ersten Atomreaktor der Welt in Chicago experimentell erfolgreich umgesetzt wurde.
Während die Kernspaltung in einem Atomreaktor kontrolliert über einen langen Zeitraum abläuft, würde eine unkontrollierte Kettenreaktion nach dem Schneeballprinzip zum sofortigen, explosiven freiwerden dieser Hitze führen. Da Menschen brennbar sind, wurde die militärische Anwendung der nuklearen Energie hochinteressant im beginnenden Weltkrieg, sodass beinahe alle beteiligten Nationen sich mit der Möglichkeit des Baus einer “Atombombe” beschäftigten. Der deutsche Entwurf dieser Waffe benötigte “schweres Wasser”, das weltweit nur in kleinen Mengen an wenigen Standorten produziert wurde. Ab 1940 eroberte Nazideutschland das Vemork-Wasserkraftwerk in Norwegen, das bis zu 10kg dieser Substanz pro Monat herstellen konnte. Deutsche Forschungsteams schätzten, dass es fünf Jahre brauchen würde, auf diese Weise eine Atombombe herzustellen. 1943 zerstörten nur 11 norwegische Widerstandskämpfer die gesamte Anlage und alles dort bisher produzierte schwere Wasser. Zwar wurde die Produktion nach Reparaturen wieder aufgenommen, doch der Zeitplan von fünf Jahren bis zur Atombombe war vor der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 natürlich nicht mehr umzusetzen.
Die USA setzten auf Plutonium und Uran-235, das von seiner natürlich vorkommenden Erzkonzentration in großen Anlagen aufbereitet werden muss. Trotz des Produktionsbeginns ab 1942 kapitulierte Deutschland noch vor der langwierigen Fertigstellung der ersten US-amerikanischen Atombombe, genannt „Gadget“. Am 16. Juli 1945 in der Wüste New Mexicos getestet, entfaltete ihr nuklearer Plutoniumkern eine Explosionskraft von bis zu 25 Kilotonnen TNT-Äquivalent, ein millionenfaches aller bisher bekannter Energie, und übertraf alle Schätzungen des Forschungsteams um Robert Oppenheimer. Für nur einen kurzen Augenblick war das Epizentrum der Detonation heißer als die Sonne, sodass alle unmittelbar umliegende Materie restlos verglühte. Im rund 400 Meter messenden Krater blieb zu Glas verschmolzener Wüstensand zurück. Die Erschütterung war noch in der 200 Kilometer entfernten Großstadt Albuquerque zu spüren und ein gleißendes Licht am Horizont zu sehen. Die charakteristisch pilzförmig aufgewirbelte Staubwolke war 12 Kilometer hoch, höher als moderne Passagierflugzeuge fliegen. Nachforschungen ergaben, dass nur ein Bruchteil des Plutoniums tatsächlich reagiert und zu dieser unvorstellbaren Zerstörungskraft beigetragen hatte. Die logistischen Vorzüge der Atombombe waren sofort klar: Um die selbe Zerstörungskraft mit konventionellem Sprengstoff zu erreichen, hätte es mehrere Schiffsladungen TNT gebraucht, abgeworfen von tausenden Flugzeugen unter Verwendung kaum verfügbarer Mengen Treibstoff. Jetzt konnte die selbe Vernichtung bewerkstelligt werden mit nur 6 Kilogramm Plutonium, abgeworfen von einem einzigen Langstreckenbomber.
Drei Wochen nach dem ersten Atombombentest wurde die Uran-basierte Atombombe Little Boy auf die japanische Stadt Hiroshima abgeworfen. Menschen im Epizentrum der Detonation hörten sofort auf zu existieren, während der Rest der Stadt durch die Druckwelle in Trümmer gelegt und durch die unvorstellbare Hitze in ein flammendes Inferno verwandelt wurde. Jegliche Zivilisation brach in der Region zusammen. Die Infrastruktur, Rettungskräfte und medizinische Versorgung wurden in einem einzigen Augenblick vernichtet und überließen die Überlebenden hilflos ihrem eigenen Schicksal. Als die japanische Regierung ein Ultimatum zur Kapitulation verstreichen ließ, wiederholte sich diese Katastrophe drei Tage später in der Stadt Nagasaki. Aufgrund des beispiellosen Chaos in den Tagen und Wochen nach diesen Angriffen lassen sich Todeszahlen, -ursachen und konkrete Auswirkungen der Strahlung bis heute trotz mehrerer Studien nur schätzen.
Japan kapitulierte. Der Zweite Weltkrieg war vorbei. Doch noch immer brodelte es: Die Aufteilung Europas und Asiens sorgte für Spannungen zwischen dem kommunistischen „Osten“ und dem kapitalistischen „Westen“. Besonders Winston Churchill drängte auf eine militärische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion, die nun Polen besetzte, zu dessen Befreiung Großbritannien den Krieg ja überhaupt erst begonnen hatte. Die harte Realität gab dies jedoch nicht her: Millionen von sowjetischen Soldaten mit einem Überfluss an Gewehren, Panzern und Flugzeugen waren nach der Eroberung Deutschlands noch nicht demobilisiert und kampfbereit. So mussten die Westalliierten, die später die NATO formen sollten, erkennen, dass sie in einem sofortigen Krieg unterliegen würden. Auch die Sowjetunion war kriegsmüde und hatte kein Interesse an zeitnahen Konfrontationen, doch das ideologische Zerwürfnis drohte trotzdem, jederzeit zu eskalieren.
Die Bedrohung durch die Atombombe erkennend, welche bisher nur im Besitz der USA war, formierten sich weltweit Gruppen für ein Verbot und die Abrüstung dieser Waffengattung. Sie wurden jedoch als sowjetische Propagandaorgane abgetan, und das Wissen um die wenigen Kilo Schwermetall, welche ganze Landstriche verwüsten konnten, hatte sich sowieso längst verselbstständigt. 1949 testete die Sowjetunion erfolgreich ihre erste Atombombe und bis 1964 schafften es die Industriestaaten Großbritannien, Frankreich und China, eigene zu fertigen. 1967 kam es zum Atomwaffensperrvertrag, der allen Staaten, die dies bis dahin nicht schon verwirklicht hatten, den Bau von Atombomben untersagte. Über dieses Abkommen setzten sich seitdem Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel hinweg. Südafrika kaufte vermutlich 6 Bomben von Israel, die jedoch mit dem Ende der Apartheid 1994 an die USA übergeben und vernichtet wurden. 1996 stellten die meisten Atommächte nach rund 2100 nuklearen Explosionen ihre Testprogramme ein. Seit 2006 kam es nur noch zu Detonationen von Atombomben in Nordkorea. Zwar wurden mit dem Ende des Kalten Krieges 1990 ein Großteil der globalen Atomwaffen abgebaut, doch auch die verbleibenden etwa 10.000 (davon etwa 8000 gleichmäßig aufgeteilt auf USA & Russland) würden ausreichen, Zivilisation wie wir sie kennen mehrfach auszulöschen.
Die Atombombe beginnt ihren Weg in einer Uranmine z.B. im Kongo, wo das Erz mit einfachen Werkzeugen abgebaut wird. Zwar strahlt das natürliche Uran nur relativ schwach, ist jedoch als Schwermetall ähnlich giftig wie Blei. So sind Krebsfälle und vielfältige Organschäden unter deutschen Bergbauarbeiter*innen im Uranabbau durch langfristige Studien des Bundesamts für Strahlenschutz belegt. Beim unkontrollierten Zwangsabbau in (ehemaligen) Kolonien ohne adäquate Schutzausrüstung zum Teil durch Kinder gibt es solche Studien nicht, doch die gesundheitlichen Folgen werden zweifelsohne verheerend sein. Anschließend wird das Uranerz an die Nuklearmächte geliefert, wo es in riesigen industriellen Anlagen angereichert werden muss. Das waffenfähige Uran-235 ist im Erz nur zu weniger als 1% enthalten und muss durch komplexe chemische und physikalische Verfahren angereichert werden. Für das Betreiben eines Atomreaktors ist eine Konzentration von etwa 5% notwendig, für den Bau einer Atombombe mehr als 85%. Dieser Arbeitsschritt ist es, der Atombomben für kleinere Staaten, militante Organisationen oder Privatpersonen unerschwinglich macht: Selbst wenn das Know-How vorhanden ist und genug Uran bezogen werden kann, ist die notwendige Anreicherung nicht ohne Großindustrie zu bewerkstelligen, die schon in der milliardenteuren Materialbeschaffung und dem Bau für ausländische Geheimdienste offensichtlich sein würde und wie beispielsweise beim iranischen Atomwaffenprogramm 1981 zu einer militärischen Reaktion führte.
Ist das Uran ausreichend konzentriert, wird es in einem Sprengkopf verbaut, der entweder als Teil einer Rakete verschossen oder von einem Bomber abgeworfen werden kann. Moderne Atomraketen verlassen beim Abschuss die Erdatmosphäre, bevor sie mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit zurück zur Erde auf ihr Ziel stürzen. Durch dieses Flugverhalten kann jede Interkontinentalrakete jeden Punkt auf der Erde in etwa einer halben Stunde erreichen. Ein Abfangen ist fast unmöglich: mit ihrer enormen Geschwindigkeit und geringer Größe gestaltet sich der Abschuss einer Atomrakete wie das manuelle Zielen auf eine nahende Gewehrkugel. Die kurze Reaktionszeit und garantierte Zerstörung stellt dabei alle Seiten eines Atomkrieges regelrecht unter Zwang, sofort die Mehrheit ihres Arsenals zu verfeuern, sodass wir von hunderten bis tausenden Raketen in der Luft sprechen, die ihre Vernichtungskraft seit Hiroshima und Nagasaki vervielfacht haben. In den Regionen, die beschossen werden, würde, sofern überhaupt Menschen überleben, jede Zivilisation langfristig zusammenbrechen. Keine Nahrungsproduktion, kein Stromnetz, keine Logistik, keine Gesundheitsversorgung, keine Regierung, keine Sicherheitskräfte werden verschont. Sobald es zum Atomkrieg kommt, gilt keine Ordnung die wir kennen mehr. Die Strahlung wird das geringste Problem der Überlebenden sein, die im nuklearen Winter um die letzten Nahrungsmittel kämpfen werden.
Es ist nicht zu unterschätzen, was für eine Lebensversicherung die Atombombe für den Kapitalismus in einer kritischen Phase darstellte: Der Faschismus war besiegt, der Realsozialismus so verbreitet wie nie und weltweit erhoben sich kolonisierte Völker zum Widerstand gegen den Imperialismus. Um die außenpolitische Zusammenarbeit der militärisch überlegenen kommunistischen Länder zu unterbinden, stellten die USA immer wieder die Atombombe als Drohung in den Raum. Mit ihrer maßlosen, totalen Zerstörungsgewalt fror die Atombombe die Welt in den „Kalten Krieg“ ein. So sehr sich die ganze Welt gegen das Joch des Kapitalismus und Imperialismus streubte, zwang der nukleare Trumpf des Westens zur Inaktion. Ihrem Wunsch beraubt, als Hort der Weltrevolution den Kommunismus immer weiter auszubreiten, begnügten sich die realsozialistischen Staaten stattdessen mit verzweifelten diplomatischen Schachzügen und ergebnislosen „Stellvertreterkriegen“, bevor sie ohnmächtig in die Irrelevanz stagnierten. Die Atombombe bestimmte ab 1945 alle Geschichte, jede einzelne politische Entscheidung, bis heute. Ohne sie hätte der kommunistische Siegeszug vielleicht nie gestoppt werden können.
Die Unterscheidung zwischen konventioneller und nuklearer Bombe war und ist für Millionen Menschen weltweit die geringste ihrer Sorgen. Über Nordkorea warfen die USA ab 1951 das Äquivalent von über 40 Little Boy Atombomben ab, über Vietnam, Kambodscha und Laos ab 1965 das Äquivalent von etwa 500, die stärkste Bombardierung der Menschheitsgeschichte. Unantastbar agierten die USA von ihren Flugplätzen im Pazifik und Thailand aus, ohne jemals einen vietnamesischen Gegenangriff fürchten zu müssen. Während heute Israel den Gazastreifen, das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt, mit dem Äquivalent von mehr als zwei Atombomben in eine Ruinenlandschaft bombt, fängt der Iron Dome, 500.000$ pro Sekunde verfeuernd, über 99% der improvisierten Raketen der Widerstandskämpfer*innen ab. Ohne geopolitische Konsequenzen schalten Imperien ihre Feinde über Grenzen hinweg per Knopfdruck in sogenannten „Luftschlägen“ aus. Militärische Überlegenheit ist ihre moralische Legitimation und die Atombombe ihr Totschlagargument. Denken wir an Gewalt von oben, Präzisionsbomben, bewaffnete Drohnen, Langstreckenraketen, so steht hinter ihnen immer eine imperialistische Macht, die sich bildlich und tatsächlich über ihre Opfer erhebt. Der Tod von oben ist immer das Gesetz des Stärkeren, der sich um keine Gerechtigkeit scheren muss.
Die Atombombe ist das finale Symbol der westlichen Zivilisation. Ihre Geschichte ist untrennbar mit der des Kapitalismus verbunden: Unter ausbeuterischen Bedingungen wird mit verschwenderischem Aufwand und Unmengen an Ressourcen ein Übermaß an giftiger, strahlender Energie produziert, die nur den größten Wirtschaftsmächten vorenthalten bleibt. Nukleare Zerstörung ist das Privileg derer, die ohnehin schon mit Zwang und Gewalt den Ton angeben. So sehr ich den imperialistischen Westen zerstört, in seinen ideologischen Grundfesten vernichtet sehen will, stellt sich bei der Parole „Atombomben auf Deutschland“ doch die Frage, wer da um Hilfe angerufen wird. Eine nukleare Umwälzung der bestehenden Verhältnisse findet als reine Gewaltdurchsetzung einer überlegenen Obrigkeit statt. Zum zwangsläufigen Endprodukt des Imperialismus bestimmt, wird es niemals eine gute, eine demokratische, eine freiheitliche Atombombe geben können. Die wahre Befreiung fällt nicht vom Himmel, sie erhebt sich: Aus dem Untergrund, den Straßen, den Schutz bietenden Höhlensystemen, in denen wir unseren Widerstand organisieren, den sie trotz aller Bemühungen bis heute nicht niederbomben konnten.
Quellen:
https://storymaps.arcgis.com/stories/2eae918ca40a4bd7a55390bba4735cdb
https://web.archive.org/web/20230326111723/https://apjjf.org/Ben-Kiernan/4313.html
https://www.rosalux.de/publikation/id/40912