Kellogg’s-Gate: Die CIA lehnt sich zurück
Posted: Oktober 9th, 2021 | Author: garamsalami | Filed under: Essay, Politik | Tags: ableismus, boykott, CIA, identitätspolitik, kellogg's, konsum, konsumkritik, praxis, revolution, streik | No Comments »US-Angestellte des Cerealien-Giganten Kellogg’s streiken. Mehrere wortgleiche Tweets, die einen solidarischen Boykottaufruf für ableistisch erklären, spalten wieder mal die US-Linke in einem epischen Shitstorm. Die CIA lehnt sich tatenlos zurück.
Lesezeit: ~7 Minuten
Content Notes: Ableismus
hi, someone with heavy food sensory issues here! frosted mini-wheats are one of the only things I can actually consume regularly and not get sick from. guilting people who can’t support boycotts is ableist as fuck but y’all aren’t ready for that conversation.
Am Mittwoch, dem 06. Oktober 2021, ruft ein Twitteraccount zu einem solidarischen Boykott mit den Streikenden Kellogg’s Angestellten auf. Wenige Stunden später gehen mehrere identische Tweets von verschiedenen Accounts viral, die den Druck zur Teilnahme an einem Boykott für ableistisch erklären, da Menschen mit sensorischen Verarbeitungsschwierigkeiten auf spezifische Nahrungsmittel, in diesem Fall Kellogg’s Frostys, angewiesen sein können. Es ist umstritten und für mich nicht mehr nachvollziehbar, ob diese identischen Tweets einen echten Ursprungstweet parodieren, oder als gezielte Desinformationskampagne gegen den Boykott gesetzt wurden (oder beides).
Innerhalb kürzester Zeit reichten Gegenpositionen von Belustigung über übliche Verurteilung von Identitätspolitik bis hin zu konkreten Vorwürfen der Entsolidarisierung oder sogar gezieltem Streikbrechen. Für mich war dieses Thema am 6. Oktober dann bereits wieder abgehakt, bis ich 3 Tage später immer noch hitzige Debattenthreads dazu in die Timeline gespült bekommen habe, die sich in einem ewigen Zyklus aus Identitätspolitikvorwürfen und Ableismusgegenvorwürfen drehen. Meine These: Ihr habt alle Unrecht.
Der ursprüngliche Ableismusvorwurf war in perfekt liberalem weißen Queerfeminismussprech formuliert, wie er sich mittlerweile sogar bis in die obersten Institutionen der US-Regierung angeeignet wurde. Sogar die ekelhaft herablassende und oft parodierte Floskel „but y‘all aren‘t ready for that conversation“ durfte nicht fehlen. Sofern dieser Tweet von einer echten Person stammt und ernstgemeint ist, habe ich keinerlei Zweifel daran, dass sie wirklich auf den Konsum von Kellogg‘s Frostys angewiesen und ihr Bedürfnis danach vollkommen berechtigt ist. Ich kann auch nachvollziehen, dass der Konsum einer anderen Marke von gezuckerten Cornflakes keine Alternative ist. Persönlich konnte ich den Tweet aufgrund des konfrontativen Tons und der deplatzierten Selbstzentrierung jedoch nicht ernst nehmen. Werft mir Tone Policing vor, aber ich sehe wirklich keine Notwendigkeit für herablassende Besserwisserei, weil ein Boykott sehr spezifische Bedürfnisse, den Konsum einer speziellen Marke eines speziellen Nahrungsmittels, nicht auf dem Schirm hatte.
Hinter diesem absurd spezifischen Take steckt jedoch natürlich, wenn auch schlecht verpackt, die vollkommen legitime allgemeinere Kritik, dass antikapitalistische Praxis oft viele individuelle Bedürfnisse unterdrückter Gruppen ausblendet und ein Einfordern dieser Bedürfnisse als konterrevolutionär framed. Da wir in einer unterdrückerischen Gesellschaft leben, ist auch antikapitalistische Praxis, gerade in einer so in Widersprüchen gefangenen Bewegung wie heute, unterdrückerisch beeinflusst. Alle unterdrückten Personen müssen ständig um eine Anerkennung ihrer Probleme, sogar innerhalb der Bewegung, kämpfen. Die Wahrheit ist jedoch, dass alle Unterdrückung durch Kapitalismus bedingt ist, wir Unterdrückung also auch innerhalb unserer antikapitalistischen Bewegungen nicht überwinden werden, solang wir Kapitalismus nicht überwunden haben. Diese Erkenntnis kann so ausgelegt werden, dass unterdrückte Personen für den antikapitalistischen Hausfrieden ihre Bedürfnisse zurückschrauben sollen, und genau dieser Interpretation scheinen klassenreduktionistische Weiße, die jeden Kampf über den Klassenkampf hinaus als „Ablenkung“ und „Identitätspolitik“ bezeichnen, anzuhängen. Stattdessen plädiere ich dafür, dass unterdrückte Personen innerhalb antikapitalistischer Bewegungen, deren Kämpfe nicht ernstgenommen werden, für ihr eigenes Seelenheil realisieren, wann ihre Kritik von einem individualistischen Bedürfnis ernstgenommen zu werden statt dem (oft vergeblichen) Streben nach einer konkreten Verbesserung beeinflusst ist. Konfrontation sollte selektiv gesucht werden, nicht um den Hausfrieden mit unterdrückerischen Linken zu wahren (die diese Unterdrückung ohnehin leugnen), sondern weil sie oft unnötig Kräfte von der eigenen Praxis zieht. Ein ständiger Kreislauf aus vergeblicher Konfrontation und unweigerlicher Ablehnung ist ein perfekter Weg für kapitalistische Reaktion, revolutionäre Bestrebungen in einem ständigen Zustand der Fehlpriorisierung und Kräfteverschwendung zu halten.
Wenn wir irgendwann mal Spotify boykottieren müssen könnt ihr euch schonmal für meinen „Ich hab eine Zwangsstörung und muss Lieder auf Spotify auf Repeat hören also seid ihr ableist“-Grind bereit machen
– @garamsalami
https://twitter.com/GaramSalami/status/1445978206721429505?s=20
Konsumkritik ist eine privilegierte Position, die von der Fähigkeit zu freien Konsumentscheidungen ausgeht. Nicht nur wie in diesem Fall aus gesundheitlichen sondern auch aus ökonomischen Gründen haben Menschen oft keine Wahl, welchen Marken oder Firmen sie ihr Geld geben. Gleichzeitig können Millionäre natürlich für ihre Diamantuhren und Lomborghinis kritisiert werden, doch kein strukturelles Problem wäre gelöst, nur weil Millionäre aufhören Luxusgüter zu konsumieren, solang sie weiterhin Millionäre sind. Im besten Fall ist Konsumkritik also einfach nur schlechte Analyse, im schlimmsten Fall opfert sie Menschen für „Klassensolidarität“, die auf unterstützende Dienstleistungen angewiesen sind. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Services (wie z.B. Lebensmittellieferungen), die behinderten Menschen das Leben erleichtern können, solang als klassenfeindlicher Luxus angesehen werden, bis sie (z.B. durch die Pandemie) für die breite Bevölkerung notwendig werden.
Jedoch ist Konsumrechtfertigung, das Schönreden eigener Konsumentscheidungen, ein ebenso weit verbreitetes wie sinnloses Phänomen. Der Glaube, es könnte moralisch konsumiert werden, ist liberaler Wohlfühl-Reformismus, der ebenfalls keine Probleme löst. Wer versucht, sich durch Rechtfertigung von seiner individuellen Schuld an kapitalistischen Strukturen freizusprechen, hat verinnerlicht, dass Individuen statt Strukturen an der kapitalistischen Krise Schuld seien. Kritik an, sowie Rechtfertigung von Cornflakes-Konsum sind zwei Seiten der selben bürgerlich-individualistischen Medaillie. Esst einfach weiter still eure Kellogg‘s Frostys, die sind keinen Diskurs wert.
people are addicted to finding woke reasons not to make even the smallest changes to their consumption habits in support of workers lmao
– @morgueages
https://twitter.com/morgueages/status/1440346201019150336?s=20
Letzten Endes ist irrelevant, ob der Ausgangstweet der ganzen Kontroverse echt oder Teil einer Desinformationskampagne von Kellogg‘s oder einem Geheimdienst ist: Die resultierende innerlinke Schlammschlacht war so enttäuschend wie zu erwarten. Das Problem sind hier wie so oft die Verhältnismäßigkeit und Priorität. War der Ableismusvorwurf konfrontativ, kurz gegriffen und zeitlich fehlplatziert? Ja. Würde eine Person oder Institution, die einen Boykott untergraben will, genau so einen Tweet faken? Definitiv. Aber genau deshalb sollte auf so eine Provokation die Reaktion milde Belustigung bis Desinteresse und weitere Unterstützung des Arbeitskampfes der Arbeitenden sein, statt endloser Takes, Analysen, Kritiken und Vorwürfe. Antikapitalistische Bewegungen sind so in unreflektierten Individualismus und einen Mangel an Praxis verstrickt, dass sie sich an jedes Gefühl von Praxis klammern müssen. Revolution ist gruselig & anstrengend, und viele Linke gerade in imperialistisch gefestigten Nationen profitieren von imperialistischen Strukturen, die sie vorgeben zu hassen. Der Schritt aus diesem Widerspruch heraus zu revolutionärer Praxis ist Selbstreflexion und Organisierung antikapitalistischer Unterstützungsstrukturen, doch es ist leichter, Leute die Kellogg‘s Frostys essen für ein Scheitern der eigenen Praxis verantwortlich zu machen.
Arbeitskampf, wie der der Kellogg‘s-Angestellten, ist revolutionäre Praxis, Konsumboykotts jedoch nicht. Boykotts sind ähnlich wie Petitionen davon abhängig, dass die boykottierte Person, Institution oder Firma aufgrund von öffentlichem Druck oder sinkenden Einnahmen ihr Verhalten ändert. Mit dieser Praxis stellen sich antikapitalistische Bewegungen selbst in eine bittstellende, handlungsunfähige Position. Außerdem ist es extrem unwahrscheinlich, dass ein Konsumboykott genug Teilnehmende mobilisiert, dass Kellogg‘s einen ausreichenden Einbruch ihrer Einnahmen für ein Umdenken bemerken würden, und selbst wenn solch eine Mobilisierung möglich wäre, wäre diese Energie in andere Praxis besser investiert. Sowohl Boykotts als auch Petitionen sind ein individualistischer Weg, Einzelpersonen das Gefühl von Praxis zu geben, ohne dabei das bürgerlich-kapitalistische Gefüge anzugreifen. Statt revolutionäre antikapitalistische Praxis zu ermöglichen und Strukturen gegen Repression zu bilden, werden Wege gesucht, innerhalb des Kapitalismus eine Illusion der Wirkmächtigkeit ohne die Gefahr von Repression oder den Aufwand von Organisierung zu schaffen. Die massive Wut, die sich in diesem Shitstorm entladen hat, ist Ausdruck einer verzweifelten Verdrängung dieser Realität. Dass Linke dabei nichtmal ihren Ableismus zügeln konnten, sensorische Behinderungen als solche zu diskreditieren, zeigt dass sie fähig sind imperialistische Unterdrückung für ihre Wut waffenfähig zu machen.
I’m not saying I have any proof „it’s lowkey ableist to ask me not to cross a pickup [sic] line“ people are Pinkertons, I’m simply saying if I were a Pinkerton I would do that
– @BudrykZack
Jeder kapitalistische Geheimdienst, der seine Hausaufgaben macht, wird sich dieser individualistischen Mechanismen innerhalb der Linken bewusst sein. Nicht alle innerlinken Streitigkeiten (wahrscheinlich sogar die wenigsten) werden durch die CIA provoziert, aber wenn ich die CIA wäre, würde ich bei eben solchen Shitstorms über Kellogg‘s Frostys genau hinschauen und mir Notizen für die Zukunft machen. Die antikapitalistische Linke muss sich dringend Gedanken darüber machen, wie ihr Individualismus und ihre daraus resultierenden Beißreflexe gegen sie verwendet werden können. Wenn ihr das nächste Mal einen goofy, provokanten Take seht, den J. Edgar Hoover himself hätte schreiben können, überlegt euch: Verhindert dieser eine Tweet wirklich die Revolution? Ist der Schaden, den dieser Tweet (nicht) anrichtet, meine begrenzte Energie wert?