Das Trolley-Problem: Eine antiimperialistische Kritik (unironisch)
Posted: November 9th, 2021 | Author: garamsalami | Filed under: Essay, Politik | Tags: akademik, ethik, imperialismus, kapitalismus, kolonialismus, philosophie, unterdrückung | No Comments »Nur eine im Kern imperialistische Gesellschaft kann sich das Trolley-Problem überhaupt ausgedacht haben. Jede westliche Ethik rechtfertigt imperialistische Menschheitsverbrechen.
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Das Trolley-Problem ist eine Serie von ethischen Dilemmas aus den 60ern (und in unserer Zeit ein Meme), die moralische Entscheidungsfindung untersuchen sollen.
Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche kann die Straßenbahn auf ein anderes Gleis umgeleitet werden. Unglücklicherweise befindet sich dort eine weitere Person. Darf (durch Umlegen der Weiche) der Tod einer Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf Personen zu retten?
-Phillipa Foot, 1967
In Variationen sind die Menschen festgebunden, um Fragen zum Warnen oder Ausweichen der Menschen auf dem Gleis überflüssig zu machen, oder statt des Umlegens eines Hebels soll ein “fetter Mann” auf das Gleis geschubst werden, um die Straßenbahn zu stoppen. Das Trolley-Problem in seiner heutigen Form wurde zuerst 1967 von Phillipa Foot beschrieben, einer Begründerin der modernen Tugendethik, die sich auf Aristoteles beruft, die möglichen Antworten auf das Dilemma beziehen sich jedoch oft auf Ethik, die lange vor 1967 ausgearbeitet wurde.
WTF ist normative Ethik?
Die zwei Handlungsmöglichkeiten, den Hebel ziehen und einen Menschen für viele opfern oder nichts tun und mehr Menschen sterben lassen, werden von unterschiedlichen Ethiken unterschiedlich bewertet. Beinahe alle Antworten auf das Trolley-Problem beziehen sich auf normative Ethik, die gemäß ihres Namens versucht, allgemeingültige Normen für Moral zu finden. Die drei Modelle, die sich in normativer Ethik durchgesetzt haben sind Utilitarismus, Deontologie und Tugendethik, welche ich versuchen werde möglichst simpel im Bezug auf das Trolley-Problem zusammenzufassen:
Utilitarismus
Begründet von John Stuart Mill (1806 – 1873), glaubt Utilitarismus daran, dass moralische Entscheidungen immer einen ermittelbaren Zweck für eine Mehrheit an Menschen erfüllen müssen. Das Opfern einer Person für das Wohlergehen von 5 ist also die moralischste Entscheidung, da so die wenigsten Menschen sterben. Der Ausgang der Entscheidung ist am wichtigsten.
Deontologie
Deontologie nach Immanuel Kant (1724 – 1804) sieht stattdessen die Handlung als entscheidend für die Moralität einer Entscheidung. Das Umlegen des Hebels wäre aktiver Mord und damit unmoralisch, auch wenn so weniger Menschen sterben würden.
Tugendethik
Am ältesten ist die Tugendethik, auf die sich die Ersinnerin Phillipa Foot beruft, und geht zurück auf Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.). Für die Entscheidung ist am wichtigsten, dass sie tugendhaft getroffen wird, selbst wenn der Ausgang objektiv katastrophal ist. Die Intention hinter der Entscheidung ist also wichtiger als die Entscheidung selbst.
Die Kritik: Das Trolley-Problem muss sterben damit wir leben können
Das Trolley-Problem ist offensichtlich im Kern darauf ausgelegt, Menschenleben gegeneinander aufzuwiegen. Zwar will es als reines Gedankenexperiment in einem Vakuum wahrgenommen werden, doch alle innerhalb des Szenarios zulässigen Antworten spiegeln uns sehr reale Gesellschaftsmechanismen der Ausbeutung und Unterwerfung. Dabei ist das Trolley-Problem komplett aus den Fingern gesaugt und kollabiert bei der geringsten Untersuchung und Hinterfragung der Umstände: Gibt es kein Signal das sich auf rot stellen lässt? Kann der Fahrer die Menschen auf dem Gleis nicht sehen? Warum bin ich für den Hebel zuständig? Und nicht zuletzt: Wer hat die Menschen überhaupt auf das Gleis gebunden?
All diese Fragen sind vom Trolley-Problem explizit nicht vorgesehen und werden sogar abgelehnt. Eine Antwort, also eine Teilnahme an einem System, wo Menschen sterben müssen, wird erzwungen. Das Trolley-Problem funktioniert nur in einer Welt, in der das Unter-die-Räder-geraten von Menschen unterhinterfragt zum Alltag gehört.
Als Gedankenexperiment der normativen Ethik soll das Trolley-Problem eine objektive Antwort für das Opfern von Menschen finden, doch analysiert an imperialistischer Geschichte lässt sich beinahe jedes kolonialistische Menschheitsverbrechen mit einer der normativen Ethiken rechtfertigen. Der Utilitarismus rechtfertigt Ausbeutung, Sklaverei und Völkermord, sofern sie dem Gemeinwohl der “Mehrheit” dient, wobei diese “Mehrheit” natürlich willkürlich von den ausbeutenden Kolonialisten bestimmt wird. Deontologie dagegen entschuldigt Menschheitsverbrechen durch Unterlassung, wie etwa die stille Zustimmung der breiten deutschen Bevölkerung zum Naziregime, da offener Widerstand gegen unterdrückerische Strukturen eine zu verurteilende Gewalttat darstellt. Ebenso konnte Widerstand rassifizierter und kolonialisierter Völker so als “wild”, “irrational” und “unmoralisch” abgewertet werden. Da westliche Ethik und Philosophie schon seit beinahe ihrem Beginn dazu gedient haben, westliche Werte und Tugenden als zivilisiert und rational darzustellen, lässt sich mit Tugendethik ebenfalls beinahe jedes Kolonialverbrechen rechtfertigen, sofern die Unterdrücker sich als tugendhaft und die Unterdrückten als unmoralisch sehen.
Das Trolley-Problem präsentiert uns also eine scheinbar objektive und neutrale Projektionsfläche für unsere Werte, doch die echte Geschichte imperialistischer Nationen war zu keiner Zeit von Objektivität und Neutralität bestimmt. Das Trolley-Problem verweigert explizit, die Personen auf den Gleisen zu charakterisieren, doch in unserer Welt wird diese Position immer von Unterdrückten eingenommen. Während für westliche Philosoph*innen über das Trolley-Problem akademisch isoliert sinniert werden kann, erleben wir die Konsequenzen normativer Ethik jeden Tag in den Nachrichten.
Es wird utilitaristisch während einer Pandemie weiter ins Amazonlagerhaus gegangen, um die Wirtschaft am laufen zu halten undImpfpatente werden nicht freigegeben um Profite zu schützen. Dagegen dürfen deontologisch keine notwendigen Maßnahmen gegen die Pandemie ergriffen werden, wenn diese die “Freiheit” der Bevölkerung zum unbehelligten Lohnarbeiten und Konsumieren einschränken könnten. Und tugendhaft werden den ausgebeuteten Ländern der Welt lachhafte Summen Impfstoff “gespendet”, während weiterhin ihre Ressourcen gestohlen werden, natürlich wieder im Namen der Wirtschaft.
Das Trolley-Problem ist ein klar imperialistisches Konstrukt zur Rechtfertigung kapitalistischer Ausbeutung, will aber in klassisch westlicher Manier als rational, objektiv und wissenschaftlich wahrgenommen werden. Während das Gedankenexperiment den Personen auf den Gleisen keine Attribute zusprechen will, ist vollkommen klar, wer sie in unserer Welt sind: Auf einer Seite des Gleises sind leidende, unterdrückte Menschen, auf der anderen Seite sind Profit und Kapital, die um jeden Preis geschützt werden müssen. Egal, auf welcher Seite des Gleises der Profit liegt, westliche Philosoph*innen finden eine Rechtfertigung den Hebel umzulegen, oder eben nicht.
Wir müssen das Trolley-Problem überwinden, wie wir jede andere kapitalistische Indoktrination überwinden müssen. In einer Zukunft, in der Unterdrückung und Ausbeutung nicht mehr integrale Bestandteile unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens sind, werden Menschen auf das Trolley-Problem zurückschauen und es als die ekelhafte Relativierung und Rechtfertigung von Mord sehen, die es ist. Wir müssen unsere Teilnahme am Trolley-Problem verweigern und das Trolley-Problem zerstören, wie wir Imperialismus zerstören müssen.