Im Westen kein neuer Antikriegsfilm
Posted: Juli 19th, 2023 | Author: garamsalami | Filed under: Essay, Film, Geschichte | Tags: antikriegsfilm, buch, erich maria remarque, film, gewalt, im westen nichts neues, krieg, netflix | No Comments »Lesezeit: ~11 Minuten
Content Notes: Krieg, Gewalt
Spoilers: Im Westen Nichts Neues (2022), Im Westen Nichts Neues (1928)
Diesen Text habe ich bereits vor Monaten begonnen, als “Im Westen Nichts Neues” (2022), die dritte Verfilmung des Romans von Erich Maria Remarque, bei den Oscars mit Lobpreisungen und Auszeichnungen überschüttet wurde, als reflektiertes Antikriegswerk des ehemaligen Kriegstreibers Deutschland. In Interviews und Filmbesprechungen wurden natürlich Parallelen zum Ukrainekrieg gezogen, jedoch auch zum Erstarken des Faschismus und der Verhärtung der Fronten im öffentlichen Diskurs. Die Netflixproduktion solle in ihrer schonungslosen Brutalität den Schrecken des Krieges “erlebbar” machen und so davor mahnen, zu welchem Leid Hass und Hetze führen können. Es wurde gehofft, einen Antikriegsepos zu schaffen in einer Zeit, wo der “lange Frieden” des Nachkriegseuropas durch den russischen Angriffkrieg auf die Ukraine erschüttert wurde. Kann gerade in Zeiten der Aufrüstung und explodierender Militärbudgets “Im Westen Nichts Neues” es überhaupt leisten, den Krieg endlich ins Reich der Unvorstellbarkeit zu verbannen? Wie hat die Buchvorlage den selben Stoff behandelt, geschrieben von einem Mann, der die Schützengräben selbst erlebte? Und was ist überhaupt ein “Anti-Kriegsfilm”?
Die Verfilmung
“Im Westen Nichts Neues” spielt an der Westfront des Ersten Weltkrieges, dem mit dem Kaiser, nicht der mit Hitler. Dieser Krieg war weitbekannt gezeichnet durch eine jahrelange statische Frontlinie, in deren Schützengräben um jeden Meter Boden geblutet wurde. Es war der erste Krieg, der an einer durchgängigen Front, statt in einzelnen Feldschlachten oder Belagerungen geführt wurde, und brachte so unzählige Innovationen des Tötens mit sich, die gänzlich unerprobt waren, nicht zuletzt Kampfflugzeuge und erste, primitive Panzer. Als unser Protagonist Paul Bäumer sich zu Beginn des Films mit den Jungs seiner Schule begeistert zum Kriegsdient meldet, weiß er nichts von dem blutgetränkten Schlamm, in dem Menschen sich aus Erdlöchern gegenseitig heimtückisch beschießen. Über die nächsten 2 ½ Stunden folgen wir Paul Bäumer und seiner Freundesgruppe dabei, wie sie immer dreckiger werden und einer nach dem anderen grausam stirbt. Dabei werden sie immer trauriger und wortkarger, ihr Innenleben lässt nur ihr schlammiges Äußeres erahnen. Hinter der Front arbeitet der Hauptdarsteller unzähliger Pro7-Produktionen Daniel Brühl daran, mit den Franzosen die Bedingungen einer deutschen Kapitulation auszuhandeln. Der Film baut so einen Wettlauf mit der Zeit auf, ob Deutschland kapitulieren wird, bevor Paul Bäumer und seine Freunde sinnlos im ohnehin verlorenen Krieg sterben werden. Die Ausweglosigkeit der deutschen Niederlage zeigt der Film uns in der Unterlegenheit und Mangelversorgung der deutschen Soldaten, die in der zentralen Schlachtszene des Films hilflos vor französischen Panzern, Flugzeugen und Flammenwerfern fliehen müssen. Bei diesem unkoordinierten Rückzug stürzt Paul Bäumer in den Krater einer Artilleriegranate, wo er mit einem Franzosen um Leben und Tod ringt. Der Franzose wird dabei tödlich verwundet, röchelt und keucht jedoch noch eine Weile sterbend vor sich hin. Isoliert von der restlichen Schlacht im Mikrokosmos ihres Lochs realisiert Paul Bäumer mit Tränen in den Augen die Menschlichkeit seines Feindes, verarztet ihn provisorisch und gibt ihm dreckiges Erdlochwasser zu trinken, bis dieser stirbt. Den Rest des Filmes starrt unser Protagonist nur noch abwesend mit Dreck im Gesicht in die Leere, bis auch sein letzter Freund Kat an einem Leberschuss, beigebracht durch ein Kind französischer Zivilisten, stirbt. Der Frieden wird für 11 Uhr des 11.11. ausgehandelt, doch befielt der General Paul Bäumers Einheit aus reinem Stolz noch einen Angriff für die letzten Minuten vor dem Frieden, bei dem in der obszönsten (fiktiven) Sinnlosigkeit noch einmal Deutsche und Franzosen sich gegenseitig erschießen und erschlagen. Es ist 10:59 Uhr, als Paul Bäumer mit Bayonett erdolcht wird.
Die Aussagen des Filmes sind klar: Krieg ist schlimm, Krieg ist traumatisierend, Krieg ist dreckig, und Krieg ist sinnlos. Deutsche und Franzosen sind eigentlich nur die selben jungen Menschen, die von einer realitätsfernen Oberschicht für das nationale Ego gegeneinander aufgestachelt werden und ohne jeden Eigennutz töten und getötet werden. In der Gedankenwelt des Films ist Krieg nur durch Manipulation und Lügen möglich, ein unnötiger Fehler des Systems, der sich durch mehr Empathie und Menschlichkeit überwinden ließe. Den Schrecken und die Sinnlosigkeit darzustellen soll also dazu beitragen, den Zuschauer*innen zu zeigen, dass Krieg sich nicht lohnt. Wer in den Krieg zieht, wird am Ende traurigen Blick und Dreck im Gesicht haben.
Das Buch
“Im Westen Nichts Neues” von 1928 beginnt und endet im Krieg, der Kampf wird auch außerhalb seiner Seiten nicht enden. Kein Wettlauf mit der Zeit, kein Frieden am Horizont, nur Dreck und Lärm und Blut. Den Schrecken des Krieges finden wir hier mit der selben Liebe zum blutigen Detail wieder, jedoch stets begleitet vom inneren Monolog Paul Bäumers, dessen Rationale hinter allen Vorkommnissen den Kern des Originals ausmacht. Szenen des Massensterbens, die im Film mehrere laute, spannende Minuten einnehmen, sind dem literarischen Paul manchmal kaum einen Nebensatz wert, während er Situationen, die er im Film nur stumm hinnimmt, seitenlang bis ins letzte Detail zerdenkt. Die Schlüsselszene des Buches ist eben die Begegnung mit dem sterbenden Franzosen im Krater, die sich hier über viele Seiten und mehrere Tage zieht, in denen der Protagonist dem Krieg abschwört und wild über die Menschlichkeit und das Privatleben des Sterbenden fantasiert und eine gemeinsame Zukunft im Frieden. Als Paul Bäumer wieder seinen Schützengraben erreicht, fühlt er sich für die Gedanken im Krater direkt albern, seine Kameraden sind von seiner Erzählung belustigt. Ihnen allen ist schonmal etwas ähnliches passiert. Der Krieg geht weiter. Angriff. Verteidigung. Im Bunker unter Artilleriebeschuss ausharren. Alltag. Eine tragische Entscheidungsschlacht mit Panzern, Flugzeugen und Flammenwerfern sucht man in der Buchvorlage vergebens. An dem Tag, als Paul Bäumer erschossen wird, meldet die militärische Führung: „Im Westen nichts Neues“. Sein Tod ist für den Krieg, der noch lange toben wird, irrelevant.
Erich Maria Remarques Weltkrieg mit all seinem Leid ist nur der Schauplatz, in dem er sich intensiv mit der Gedankenwelt des Soldaten auseinandersetzt, der eben all diesen Schrecken vor seinen Augen rationalisieren muss, um zu überleben. Welche eigenen Wahrheiten muss ein Mensch produzieren, um in der künstlichen Überlebenssituation des Krieges nicht zu zerbrechen? „Im Westen Nichts Neues“ will den Krieg nicht undenkbar machen, sondern erforscht, genau warum der Krieg eben denkbar ist, immer wieder genug Männer in seinen Wahn ziehen kann, dass die gegenseitige Menschlichkeit keine Rolle mehr spielt. Der Buch-Paul freut sich sogar, als die Franzosen nach tagelangem Artilleriebeschuss endlich angreifen, weil er nun endlich einen konkreten Feind töten kann, statt der abstrakten Bedrohung kilometerweit fern abgeschossener Granaten hilflos ausgesetzt zu sein. Es gibt keine Heimat, keine Generäle, keine Propaganda oder Friedensverhandlungen hinter der Front, nur das hier und jetzt, wo überlebt werden muss. Die Soldaten in den Schützengräben können sich keine Gedanken über die Sinnlosigkeit des Krieges leisten, denn ihr akuter Überlebenskampf ist trotzdem real und alles andere als sinnlos.
Wie ist Krieg überhaupt möglich?
Warum lassen wir nicht einfach die Politiker*innen der Streitparteien in einem Boxkampf kämpfen, um über Sieg und Niederlage zu entscheiden? Wenn es einen Streit zwischen zwei unvereinbaren Positionen gibt, der sich nicht schlichten lässt (ungeachtet wer tatsächlich Recht hat), werden beide Seiten versuchen, ihren Willen mit Druck durchzusetzen. Das kann durch soziale Intrigen, Entzug von Ressourcen oder sonstige Zwangsmaßnahmen geschehen, aber die ultimative Maßnahme zur Durchsetzung der eigenen Position ist der Tod der anderen Partei. Der Tod ist die absolute, finale Konsequenz für uns Menschen. Alles was wir tun, dient der Abwendung unseres eigenen Todes. Damit ist anderen Menschen den Tod zuzufügen aber auch die größte Eskalation, die wir erwirken können. Wenn beiden Parteien also die Durchsetzung ihrer eigenen Position wichtig genug ist und niemand nachgibt, wird es in letzter Konsequenz immer zum Töten führen. Ein arrangierter Wettstreit, um eine Entscheidung herbeizuführen, kann nur funktionieren, wenn beide Parteien das Ergebnis ehren, was bei ausreichend verhärteten Positionen unwahrscheinlich ist und Eskalationsstufen nach oben unausgeschöpft lässt.
Wir sind für die Abschaffung des Krieges, wir wollen den Krieg nicht; aber man kann den Krieg nur durch den Krieg abschaffen; wer das Gewehr nicht will, der muss zum Gewehr greifen.
– Mao Zedong
Sind die Streitparteien zwei bewaffnete Völker, denen die Durchsetzung ihrer Positionen wichtig genug ist, wird das Töten zum Krieg. In der Kriegstheorie nach Clausewitz beginnt ein Krieg mit der Entscheidung des Angegriffenen, sich zu verteidigen, statt dem Willen des Angreifers nachzugeben. Für den Angreifer dagegen wäre es sogar wünschenswert, wenn es nicht zur Verteidigung und damit zum Krieg, sondern zur sofortigen, kampflosen Durchsetzung seines Willens kommt. Die konkrete politische und militärische Situation entscheidet dabei, wer Angreifer und wer Verteidiger wird. Welche Ziele mit welchen Begründungen beide Parteien verfolgen, und wieso das Volk sich mit diesen Zielen ausreichend identifiziert, um mit Waffen ihr Leben zu riskieren und zu töten, ist dabei in jedem Krieg unterschiedlich, aber das reine Stattfinden eines Krieges belegt, dass beide Seiten ihn für sinnvoll errachten, sonst würde er nicht ausbrechen. Die Phrase „Stell dir vor es ist Krieg und niemand geht hin“ ist also ein Oxymoron, denn ein Krieg kann nur sein, wenn hingegangen wird.
Sind wir nicht alle gegen Krieg?
„Im Westen Nichts Neues“ (Der Film) operiert unter der Annahme, dass das Filmpublikum kein Konzept vom Schrecken des Krieges hätte und daran bildgewaltig erinnert werden müsse, um Frieden aufrecht zu erhalten. Die hochmoderne, teure Inszenierung des Ersten Weltkrieges unter Anwendung aller Tricks der Filminszenierung möchte den Krieg erlebbar machen, um ihn unvorstellbar werden zu lassen. Stattdessen wird der filmische Krieg zum aufregenden Konsumgut und zur Freizeitgestaltung. Die Vorstellung, den Krieg auf einer Leinwand erleben und nachfühlen zu können, ist absurd und verhöhnend. Wie sehr können wir gegen den Krieg sein, wenn er so eine Faszination auf uns auswirkt, dass wir freiwillig für ein paar Stunden als Erlebnis in seinen Sinneseindrücken versinken wollen? Genau diese Faszination mit dem Krieg ist doch der Beweis, welche Macht er über uns Menschen hat.
Spannend ist dabei auch, dass die Sinnlosigkeit des Krieges in berühmten „Antikriegs“-werken beinahe ausschließlich aus Sicht der Verliererenden gezeigt wird. „Apocalypse Now“, „Platoon“ und „Full Metal Jacket“ zeigen wie schlimm und sinnlos der Krieg für die imperialistischen USA war, die dem Ausdauern und der Hartnäckigkeit des kommunistischen Nordvietnams unterlegen sind, „Das Boot“ und „Die Brücke“ zeigen, wie schlecht es den armen Nazis beim Verlieren des Krieges ging, und eben „Im Westen Nichts Neues“ zeigt wie sinnlos der Erste Weltkrieg ist, wenn man verliert. Sicher gibt es Ausnahmen zu dieser Regel, doch ist mir kein Antikriegsfilm bekannt, der deutsche Soldaten beim Sturm auf Polen zeigt, obwohl sich hier sicher die selbe Zerstörung, Gewalt und Aufopferung, wie in jeder anderen Kriegsverfilmung zeigen lassen würden. „Der Soldat James Ryan“ geht sogar so weit, ohne vorbehalte in Vollbildeinstellung dargestelltes Blut und Gedärme des Kampfes heroisch wirken zu lassen, handelte es sich bei der Erstürmung Frankreichs 1944 doch um den letzten gerechten Feldzug der USA. Der Krieg scheint also nur sinnlos und manipulativ zu sein, wenn er verloren wird, die selbe Gewalt und Zerstörung sind jedoch heroisch, wenn damit ein Sieg errungen wird.
When Peace Is Just Another Word For Death It’s Our Time To Give Violence A Chance
– G.L.O.S.S.
Im Kapitalismus leben wir jeden Tag damit, dass der Wille des Profits mit Gewalt durchgesetzt wird. Die Unterdrückung durch die Besitzenden und ihre Institutionen ist faktisch ein alltäglicher Angriff auf die Unterdrückten, welche nachgeben und mit ihrer Lohnsklaverei mehr Kapital ohne Eigennutz anhäufen. Entscheiden die unterdrückten Massen irgendwann, sich gegen den Angriff auf ihre Menschlichkeit zu verteidigen, und geben die Unterdrücker dann nicht nach, wird es faktisch zum Krieg, auch Klassenkampf genannt, kommen. Es ist einfach, sich dann auf den moralischen Absolutismus von „Krieg = schlecht“ zu berufen, ist er doch die klassischste Position des Zentrismus. Dieser Zentrismus ist angebracht, wenn ein Krieg aus reiner Profitgier und imperialistischem Machtstreben beider Seiten geführt wird, wie der Erste Weltkrieg beispielsweise, doch ist Zentrismus eben implizit auch immer die Position des Status Quo. Möchte eine Konfliktpartei einen Zustand verändern und die andere den selben Zustand erhalten, stellen sich Zentrist*innen mit ihren absolutischen Friedensbestrebungen damit (ungewollt) immer auf die konservative Seite. Es gibt Konflikte, in denen eine Partei nunmal einfach im Recht ist und sich gegen die Aggression der ungerechten Partei verteidigen muss, und wer hier apathisch ist, hat seine Seite gewählt. Die liberale Antikriegsposition, die Krieg für ein undenkbares Übel hält, ist damit gar nicht so liberal, wie sie denkt. Noch dazu ist sie heuchlerisch, wird der Wille des Kapitals doch jeden Tag vor unseren Augen mit asymmetrischer, unbeantworteter Gewalt durchgesetzt.
Die Auseinandersetzung mit Krieg in „Im Westen Nichts Neues“ (2022) ist naiv und kaum ernster zu nehmen als das Musikvideo zu „Beat It“, wo Michael Jackson mit einem cool choreografierten Tanz einen Bandenkrieg schlichtet, der aus materialistischen Unterdrückungsrealitäten entstanden sein muss. Was die Netflix-Verfilmung mit 2 ½ Stunden an Explosionen, Rauch und Blut sagt, gibt der King Of Pop in einer Songzeile ähnlich nuancenlos wieder: „It doesn’t matter who’s wrong or right, just beat it“. Die Geschichte zeigt jedoch: Manchmal mattered es sehr wohl, wer im Recht ist, und dieses Recht gegen einen Angreifer durchzusetzen, verlangt aktive Notwehr. Der Krieg ist ein Phänomen, das mit unserer Sterblichkeit fest verbunden ist und damit zur Lebensrealität gehört. Niemand hat Lust auf Krieg, doch er geschieht, wenn Menschen auf ihren Positionen verharren. Wer ehrlich ist, muss sich die Positionen anschauen und bewerten, statt den Krieg zu bewerten. Gegen den Krieg sein ist bestenfalls naive Weltverbesserei, schlimmstenfalls eine privilegierte, moralische Selbstüberhöhung zu Gunsten des Stärkeren, nicht der Gerechtigkeit. Würde es als Antikriegsposition ausreichen, dass Krieg schlimm ist, würden wir seit Jahrhunderten im Weltfrieden leben.