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Squid Game: Mehr als nur „Kapitalismus = schlecht“

Posted: Oktober 10th, 2021 | Author: | Filed under: Essay, Serien | Tags: , , , , , , , , , , , , , , | No Comments »

Die allgemeine Kapitalismuskritik in Squid Game ist offensichtlich und flach, doch das Verkaufen des eigenen Körpers für Geld ist nicht das zentrale Spannungsfeld der Handlung.

Lesezeit: ~8 Minuten

Content Notes: Massenmord, Flucht, Armut, Obdachlosigkeit, Hunger, Ableismus, Entmenschlichung

Spoiler Warning: Squid Game

Ich werde in dieser Rezension ungefiltert Schlüsselereignisse aus der kompletten Laufzeit der Serie behandeln, ohne gesondert Spoilerwarnungen im Text auszusprechen. Dieser Text richtet sich an Leute, welche die Serie entweder gesehen haben oder nicht daran interessiert sind, sie zu schauen.

Zum Ende hin werde ich auch echt existenziell und düster, also schaut euch die CNs nochmal genauer an und nehmt sie ernst bevor ihr euch entscheidet zu lesen.

Durch den Hype und die zahlreichen Memes ist es beinahe unmöglich Spoiler zu Squid Game zu vermeiden, auch wenn diese mir ein falsches Bild der Serie vermittelt haben. Die wenigen Screenshots und Memeformate, die sich um gleichgekleidete, nummerierte Wettbewerbsteilnehmer*innen einer scheinbaren Gameshow drehen, erwecken eher die Erwartungen eines morbiden Takeshi‘s Castle als der emotionale Leberhaken, den die Serie für mich (auch aus privaten Gründen) dargestellt hat. Bereits vor dem Sehen wusste ich, dass die Serie eine Kapitalismusallegorie darstellt, in der verzweifelte Menschen ihren Körper unter Lebensgefahr für die Chance eines Klassenaufstiegs (und das Entertainment reicher Strippenzieher) verkaufen.

Die Kapitalismuskritik in Squid Game ist der offensichtlichste Aspekt der Serie und deshalb möchte ich sie zu Beginn nur kurz umreißen, weil ich hier wahrscheinlich für die wenigsten Kenner*innen der Serie etwas Neues sagen werde: Die Teilnehmer*innen des Squid Game, die wir im Verlauf der Serie kennenlernen, wurden alle in irgendeiner Form von der kapitalistischen Gesellschaft ausgegrenzt und im Stich gelassen. Arbeitsverlust, Schulden, Kriminalisierung, Flucht. Nach dem ersten tödlichen „Spiel“, das mehr als die Hälfte der Teilnehmenden in einer schockierenden, plötzlichen Gewaltexplosion dezimiert, stimmt von den Überlebenden nur die Hälfte dafür, das Spiel abzubrechen, die entscheidende Stimme für den Abbruch des Spiels kommt schließlich von Spieler 001, der nur ein verdeckter Organisator des Squid Game ist. Die Organisation hinter dem Squid Game weiß aus Erfahrung, ähnlich wie eine echte Firma, die ihre Arbeitenden ausbeutet, dass die meisten Spielenden zurückkehren werden, da sie im Kapitalismus keine Wahl zur Teilnahmeverweigerung haben. Tod ist sowohl im Squid Game als auch im kapitalistischen Alltag eine reale und greifbare Gefahr: Selbst in entwickelten Industrienationen mit „Sozialsystemen“ ist es unter Umständen möglich, vor einem vollen, beheizten Supermarkt zu verhungern oder zu erfrieren.

Auch die Message, dass es im Kapitalismus nicht alle schaffen können und die, die es schaffen, dafür über Leichen gehen müssen, wird unelegant wie präzise gezeigt: Von 456 Teilnehmenden kann nur eine*r gewinnen. Der Tod eines Mitspielenden ist bares Geld wert (umgerechnet etwa 70.000€), welches am Ende gesammelt an die siegende Person geht. Für die Veranstaltenden des Squid Game wäre es also möglich, jedem Teilnehmenden bedingungslos etwa 70.000€ auszuzahlen, stattdessen lassen sie lieber 455 Menschen sterben, um einer Person umgerechnet etwa 33 Millionen Euro auszuzahlen. Wie im Kapitalismus, und besonders offensichtlich jetzt in der Pandemie, lassen sich Menschenleben in einer kalten, nach imperialistischen Werten „vernünftigen“ Rechnung aufwiegen. Es sind genug Ressourcen da, uns allen eine würdige Existenz zu ermöglichen, doch stattdessen ist die ständige Gefahr des eigenen Todes für uns eine Karotte am Stock, die uns sogar zu Mord antreibt.

Auf der Oberfläche betrachtet lässt sich Squid Game also auf die uninspirierte Message „Kapitalismus = schlecht“ herunterbrechen, doch tiefergehend dreht sich die Serie um einen sehr genauen Aspekt des Kapitalismus: Den Überfluss. Spieler 001, der sich im Finale der Serie als Strippenzieher herausstellt, spricht es auf seinem Sterbebett explizit aus: Wer zu viel Geld hat, um es auszugeben, hat keinen Spaß. Alles ist langweilig und stumpft ab, nichts mehr aufregend. Die Antwort: Das Squid Game. Die Anlagen und hunderte Mitarbeitende des Spiels auf einer verlassenen Insel lassen keinen Zweifel zu, dass das Preisgeld von 455.000.000.000 Won (33 Mio €) die geringsten Kosten des kompletten Events darstellt. So eine massive Produktion geheimzuhalten, muss über den unvorstellbar teuren Ablauf des Spiels hinaus auch unvorstellbare Macht erfordern. Jedes Spiel des Squid Game, der ganze unterirdische Gebäudekomplex, die kompletten organisatorischen und logistischen Abläufe zeigen, dass die Organisatoren hinter dem Squid Game ein ungreifbares, unbesiegbares Konzept statt einer konkreten Personengruppe sind. Wer hat den Komplex gebaut? Warum plaudert bei so vielen Beteiligten niemand etwas aus? Wie werden die stimm- und gesichtslosen Lakaien des Squid Game zu Mord und Todschlag ohne eigene Freiheit gebracht? Das ganze Squid Game ist nur durch einen massiven Überfluss an Mitwissenden, Material und Geld möglich.

Die Gewalt in Squid Game ist exzessiv, überflüssig: Die Organisatoren haben einen Überfluss an Ressourcen aufgefahren, um einen Überflüss an Gewalt zu inszenieren. Trotz ihres offensichtlichen Sadismus, wortwörtlich um Menschenleben zu spielen, scheint auch für sie die Gewalt überflüssig zu sein: Schon beim ersten Spiel, wo innerhalb weniger Sekunden beinahe 200 Spieler*innen getötet werden, braucht der über zahlreiche Kameras zuschauende „Front Man“ zusätzliche Stimulation in Form von leichter Jazzmusik, welche die Klänge der Schüsse und des Sterbens überlagert. Schon der Tod der ersten 200 Teilnehmenden langweilt ihn, trotzdem müssen die restlichen 250 vollkommen überflüssig zum Genuss von niemandem, nicht einmal der sadistischen Organisatoren, sterben. Der selbe Effekt soll durch die Inszenierung für die Zuschauer der Serie erzielt werden: Die Gewaltszenen sind überflüssig lang, überflüssig laut, überflüssig brutal, bis sie am Ende des Spiels keinen emotionalen Effekt mehr erzielen: Für die Zuschauer vor Netflix, für die Organisatoren vor ihren Bildschirmen in den Hinterzimmern, sogar für die Spielenden selbst. Am Ende von Spiel 1 und Folge 1 haben wir über 200 Menschen sterben sehen, vielleicht die ersten 50 davon haben geschockt. Es kommen noch 5 Spiele.

Durch Twists, Subversion unserer Erwartungen und die persönliche Bindung zu einem Ensemble von Charakteren, die wir näher kennenlernen, schaffen es die restlichen 5 Spiele, immer wieder kurz zu schockieren, doch haben sie immer ein Element an Überfluss: Während im ersten Spiel noch scheinbar automatisiert getötet wird, schockt das zweite Spiel durch die manuelle Intimität des Tötens. Die Spielenden zucken bei den ersten Exekutionen noch zusammen, bevor im Verlauf des Spiels die Schüsse langsam zu Hintergrundgeräuschen werden. Das Tauziehen beinhaltet 4 Tauziehmatches, die so überflüssig sind, dass die letzten beiden nichtmal mehr gezeigt werden. Bei dem Springspiel müssen die Teilnehmenden über so viele Glasplatten springen, dass sogar ein zuschauender VIP lieber mit einer Bedienung verschwindet als den Ausgang des Spiels zu verfolgen. Das Finale, das namensgebende Squid Game, hat komplett überflüssige Kinderspiel-Regeln, da es sich am Ende nur um einen Käfigkampf auf Leben und Tod ohne Regeln handelt. Ausgelassen habe ich hier natürlich das Murmelspiel, doch dazu später mehr.

Der Protagonist, Spieler 456, gewinnt das Squid Game und damit das Preisgeld von 455.000.000.000 Won. Er hebt einmal 10000 Won (umgerechnet ~7€) von diesem Gewinn ab und lebt danach ein Jahr in scheinbarer Armut, ohne den Rest anzurühren. Aufgrund seiner Schuldgefühle möchte er das Geld nicht und lässt es auf seinem Konto sitzen, wo die Bank es in Form von Zinsen vermehrt. Auf den ersten Blick nobel und bescheiden, ist er damit jedoch nur in der selben Position wie die Organisatoren des Squid Game: Wenn er das Geld wirklich nicht wollte, könnte er stattdessen 456 Mal (z.B. den Hinterbliebenen der Gestorbenen) 70.000€ auszahlen (oder ~3000 Personen 10.000€), für arme Menschen ausnahmslos eine lebensverändernde Summe. Stattdessen sitzt er auf dem Geld und lässt es vermehren, ohne zu wissen, wofür er es ausgeben soll. Es ist überflüssig geworden.

Obwohl Spieler 456 weiterhin bescheiden leben und seinen Reichtum ignorieren will, wird sein Klassenaufstieg ganz am Ende der Serie deutlich: Bei der Konfrontation mit Spieler 001, dem Strippenzieher des Squid Game, schließt er eine Wette auf das Leben des betrunkenen Obdachlosen unten in der Straße ab. Spieler 456 spielt um ein Menschenleben und wettet darauf, dass jemand den Obdachlosen retten wird, obwohl ihn zu keiner Zeit etwas daran hindern würde, ihn selbst zu retten. Stattdessen schauen die beiden reichen Menschen aus ihrem Elfenbeinturm herab und spekulieren um Leben und Tod. Spieler 456 gewinnt am Ende auch dieses Spiel, doch sein Sieg ist hohl, überflüssig.

In dieser überflüssigen, abstumpfenden Barrage an Gewalt und Tod hat ein Event mich nicht kalt gelassen: Das Murmelspiel. Nach bereits drei brutalen Spielen, wo die Teilnehmer*innen ihre Leben aufgegeben haben, lassen sie beim Murmelspiel mehr als bei allen anderen Spielen ihre Menschlichkeit zurück. Das Murmelspiel tötet viel mehr als eine Hälfte der Hauptcharaktere: Es tötet den dünnen Schein einer Gemeinschaft und Kooperation im Squid Game. Im Gegensatz zu vorherigen Spielen wurde es von den Organisatoren perfekt designed, die Teilnehmenden zu individualisieren und Kooperation nachteilig zum eigenen Überleben zu machen. Ähnlich wie kapitalistische Strukturen macht das Squid Game es schwer bis unmöglich, unterstützungsbedürftige Menschen würdig in die Gesellschaft einzugliedern. In einer Welt, in der immer der eigene Selbsterhalt unter Lebensgefahr im Fokus steht, geraten Menschen, die kapitalistische Standards nicht erfüllen können oder wollen, unter die Räder unsolidarischer Aufsstiegsambitionen. Der selbe Mangel an Sicherheit, der „die Schwachen“ verschlingt, treibt „die Starken“ an, „die Schwachen“ zu verschlingen.

Wenn ihr micht fragt, ist das Murmelspiel der Höhepunkt der Serie, wo alle Spannungen der Handlung kollidieren und sich auflösen. Schon der massenhafte Tod von Menschen war zu diesem Zeitpunkt in der Serie überflüssig geworden, doch ab diesem Punkt war auch die Menschlichkeit selbst überflüssig. Obwohl mit sinkender Teilnehmerzahl die Tode immer weniger und damit greifbarer werden, kehrt das Gefühl des Schocks nicht zurück. Der Tod ist normal geworden, ein alltägliches Geschäft, und es gibt kein zurück mehr. Selbst als das Squid Game vorbei ist und 456 den Horror der Entmenschlichung selbst miterlebt hat, sieht er aus dem überflüssigen Elfenbeinturm einem Obdachlosen beim Erfrieren zu, obwohl er jederzeit intervenieren könnte. Niemand sollte sich mehr der Bedeutung des Todes bewusst sein als 456, und doch fehlt ihm immer noch die Empathie. Die Parallelen zu unserem Pandemiemanagement sind offensichtlich.

Squid Game war für mich viel mehr als nur reine Kapitalismuskritik. Die Fragen, die es über den Wert von Menschenleben aufwirft, sind eher philosophisch-existenziell als ideologisch. Kapitalismus entmenschlicht uns laufend mit einem Überflüss an Ressourcen und Konsum, ohne uns gleichzeitig Sicherheit vor dem Tod zu geben. Viel mehr als eine antikapitalistische Analyse, stellt Squid Game für mich eine morbide Studie dar, wohin uns diese Entmenschlichung führt. Das Ende von 455 Menschenleben scheint im Angesicht der echten Opferzahlen des Kapitalismus und Imperialismus beinahe wie eine überflüssige Erwähnung.


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