„Das rote Buch war nur Maos Tweetsammlung“ – @garamsalami

„Wir wussten von nichts“: Deutsche Erinnerungen an Hitler und die Weiße Rose

Posted: November 21st, 2023 | Author: | Filed under: Essay, Geschichte | Tags: , , , , , | No Comments »

Lesezeit: ~7 Minuten
Content Notes: Krieg, Genozid, Holocaust, Hinrichtung

Im Januar 1939, noch vor dem Überfall auf Polen, hatte Adolf Hitler im Falle eines eventuellen „Weltkrieges“ mit dem Völkermord an europäischen Jüd*innen gedroht. Es ist fast 3 Jahre später, der 12. Dezember 1941, als er eine Lagebesprechung aller führenden NSDAP-Mitglieder einberuft, um über die Lage der Nation zu sprechen: Wenige Tage zuvor hatte die japanische Marine ohne Kriegserklärung den US-amerikanischen Militärhafen Pearl Harbor überfallen. Der zuerst europäische Konflikt war nun global. Nach der Besprechung notierte Goebbels in seinem Tagebuch: „Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muß die notwendige Folge sein.“ Diesen Worten eilten längst Taten vorraus: Ende 1941 waren bereits etwa eine Million Jüd*innen in ganz Europa durch Erschießung, Hunger und Kälte ermordet worden, der Bau der ersten Vernichtungslager hatte begonnen. In den sogenannten „Hitler-Tagebüchern“ fasst der Autor die Planung der weiteren Strategie und Verbrechen an diesem Tag knapp zusammen:

Große Lagebespr.
Lage nach Japans Kriegseintritt Stützpunkt Dakar erwünscht. Transport von Kriegsschiffen ins Schwarze Meer. Breiten Raum nimmt kritische Öllage von uns ein.“

Einen Monat später, am 20. Januar, trafen sich führende Organe der Nazis zur sogenannten „Wannseekonferenz“, um Zuständigkeiten für die Logistik des Genozids zu klären. Der Entschluss zum Massenmord war schon längst gefasst. Hitler selbst nahm an dieser Konferenz nicht teil, hatte jedoch zweifelsohne Zugriff auf ihre Protokolle. Im 1983 veröffentlichten Tagebuch ist an diesem Tag notiert:

Erwarte die Meldungen der Konferenz über die Judenfrage. Wir müssen unbedingt einen Platz im Osten finden, wo sich diese Juden selbst ernähren können. Ich habe von den Teilnehmern der Kroferenz [sic] eine schnelle Lösung verlangt. Es muß doch im Osten einen Flecken geben, wo man diese Juden unterbringen kann.”

Bei seiner sogenannten „Stalingrad-Rede“ am 8. November 1942 im Münchner Löwenbräukeller betont Hitler noch einmal, dass der „prophezeihte“ „Weltkrieg“ gekommen sei, dessen „Ergebnis“ die „Ausrottung des Judentums“ sein werde. An diesem Tag bleibt das „Hitler-Tagebuch“ leer, wenige Tage später befasst es sich stattdessen mit der Landung der US-Armee in Nordafrika.

Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus steckte im Westdeutschland der 80er-Jahre noch in den Kinderschuhen: Die letzten NS-Verbrecher gingen nach unbehelligten politischen Karrieren in der Bundesrepublik in den Ruhestand und noch immer wurde die Propagandalüge der „sauberen Wehrmacht“ gelehrt, welche erst durch die „Wehrmachtsausstellungen“ der 90er-Jahre zerschmettert wurde. Das Oktoberfestattentat, verübt 1980 durch ein Mitglied einer rechtsterroristischen Gruppe, wurde von bayrischen Behörden nie aufgeklärt, Täter gewarnt und gedeckt, Spuren verwischt, Ermittlungen nach zwei Jahren eingestellt. In diesem Klima veröffentlichte das Magazin Stern 1983 die sogenannten „Hitler-Tagebücher“, eine Sammlung von 62 Bänden, datiert über 12 Jahre, begleitet von einem großen Medienecho. Der Hitler in diesen Seiten rattert mechanisch historische Ereignisse herunter, über die verbrecherischen Vorgänge seines Regimes scheint er naiv ahnungslos. Kein Wort von Massenerschießungen, Vergasungen, Genozid, Kriegsverbrechen. Die „Hitler-Tagebücher“ offenbaren eine macht- und schuldlose Galleonsfigur, die ohne jede ideologische Überzeugung nur ihr Gesicht für die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte herhält.

Es dauerte nur wenige Tage nach Veröffentlichung der Tagebücher, bis der Druck zu groß wurde: Historische Ungereimtheiten fielen auf, das Papier war mit modernen Methoden gebleicht, welche in den 1930ern nicht existierten, der Schreibstil passte nicht zu anderen bekannten Dokumenten des Diktators. Der Stern war auf einen Kunstfälscher hereingefallen, der von Nazi-Devotionalien besessen war, mit ihnen handelte und die Handschrift Hitlers zu imitieren gelernt hatte. Häppchenweise hatte dieser einem Journalisten für Millionenbeträge die Tagebücher zugespielt, so schnell er sie eben selbst verfassen konnte. Als die Ungereimtheiten auftraten, waren die Redakteur*innen des Stern sowohl emotional als auch finanziell bereits so weit investiert, dass sie kollektiv darüber hinwegsahen und sich mit der Veröffentlichung schließlich vor der ganzen Nation blamierten.

Es hätte auch anders ausgehen können: Der von einem Nazi-Fan erfundene Tagebuch-Hitler spielte perfekt der deutschen Bevölkerung in die Karten, welche sich durch Nichtwissen von jeder Schuld reinwaschen wollte. Wie konnten die normalen Bürger*innen vom Holocaust wissen, wenn selbst der Führer der Nation in seinen Tagebüchern ahnungslos ist? Während über Jahre Gesetze verschärft, Jüd*innen schikaniert, ihre Geschäfte zerstört und aufgelöst, schließlich ihr ganzes Eigentum enteignet und versteigert wurde, bevor sie mit Gewalt ganz von den Straßen verschwanden, ihre Wohnungen billig für „arische“ Familien frei wurden, wollte niemand von etwas wissen. Hätte sich die Falschheit der Tagebücher einfacher unter den Teppich kehren lassen, wäre diese Chance zur Geschichtsrevision sicher nicht ungenutzt geblieben.

2021 starteten die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender SWR und BR das Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ mit dem Slogan „Stell dir vor es ist 1942 und Sophie Scholl hat Instagram.“ Hier postete die Redaktion mit 79 Jahren Verzögerung tagesaktuell über das Leben der Widerstandskämpferin, dargestellt durch eine Schauspielerin. Wir begleiten in einer Inszenierung sowohl das Privatleben als auch die politischen Aktionen der Mitglieder der „Weißen Rose“, einer bürgerlichen Widerstandsgruppe, und fiebern mit theatralischem Spannungsbogen ihrem unweigerlichen Scheitern entgegen.

In der deutschen Nachkriegspropaganda hält die Weiße Rose als schillerndes Beispiel der deutschen Widerständigkeit her. Wir lernen von ihnen in der Schule, hier in München wird man in der Universität, wo Sophie Scholl ertappt und verhaftet wurde, prominent plaziert an sie erinnert, regelmäßig erscheinen neue Dokumentationen, Spielfilme, oder eben das Projekt „Ich bin Sophie Scholl“. Obwohl wir vor allem viel über ihr ehrwürdiges Märtyrium nach ihrer Verhaftung lernen, sind die sechs Flugblätter der Weißen Rose, welche frei zugänglich lesbar sind, kein Unterrichts- oder Gesprächsstoff. Der erste Satz ihres ersten Flugblattes gibt sorgfältig gewählt den Tenor aller ihrer Schriften wieder:

Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique „regieren“ zu lassen.”

In der Gedankenwelt der Weißen Rose sind die Deutschen ein intellektuelles „Kulturvolk“, in der Tradition der wichtigsten Dichter und Denker. Die Nazis sind eine „unwürdige“ Abweichung von diesem Erbe. Immer wieder appeliert die aus bürgerlichen Akademiker*innen bestehende Weiße Rose vergeblich an die Anständigkeit der Deutschen. Sie sind fest überzeugt, dass das deutsche Volk aus eigener Motivation heraus den Faschismus abschütteln wird, und beziehen sich auf edle Philosophen und Denkrichtungen. An diese noblen Ideale und die deutsche Anständigkeit haben sie so bedingungslos geglaubt, dass es sie das Leben kostete: Vom anständigen deutschen Volk der Dichter und Denker denunziert, wurden sie Anfang 1943 hingerichtet.

Dass der interne Widerstand gegen die Nazis so bürgerlich, so verliebt in deutsche Tugenden war, sein musste, liegt daran, dass radikalere Kräfte, die vehementer hätten rebellieren können, bereits seit 1933 im Exil oder im KZ waren. Weil somit nur die kooperative Bevölkerung die „Gleichschaltung“ überlebte, muss sich die Deutschapologetik an die wenigen Beispiele des Widerstands, so selten und ineffektiv sie waren, klammern. Laut einer Umfrage der „Stiftung Erinnerung“ glauben 18% der Deutschen, fast jeder Fünfte, ihre Familie hätte Jüd*innen versteckt. Würde diese Zahl stimmen, hätten wahrscheinlich alle deutschen Jüd*innen während des Holocaust einen Unterschlupf finden müssen. Die tatsächlich belegte Zahl der Helfer*innen gemessen an der Gesamtbevölkerung liegt stattdessen nicht einmal im einstelligen Promillebereich.

Im Juni und Juli 1942 verfassten die Mitglieder der Weißen Rose ihre ersten vier Flugblätter. Das Zweite benennt klar die Ermordung von „dreihunderttausend Juden” in Polen, eine historisch signifikante Erwähnung, ist es doch eines der wenigen zivilen Dokumente dieser Zeit, das offen über den Genozid spricht. Obwohl die genannte Todeszahl niedriger als die Wahrheit ist, belegt die Weiße Rose, welche über keinerlei geheimen Regierungsinformationen verfügte, dass normale Bürger*innen Wissen über das Massenmorden haben konnten. Sophie Scholl muss als Mitglied der Gruppe den Inhalt der Flugblätter gekannt haben.

Es ist der fiktive Oktober 1942, als das Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ zu einer Fragerunde an die Widerstandskämpferin aufruft. Auf die Frage, was wohl gerade mit den Jüd*innen passiere, antwortet die Redaktion, für Sophie Scholl sprechend:

Aus Deutschland werden Jüdinnen und Juden mit eigenen Zügen in den Osten gebracht. Mitnehmen dürfen sie kaum etwas. Was dort mit ihnen geschieht, werden wir erfahren, wenn wir den Krieg verloren haben.“

Trotz gegenteiliger Quellenlage zur echten Sophie Scholl, ist ihre imaginierte Version des SWR und BR naiv gegenüber den Verbrechen der Nazis. Wie konnten die normalen Bürger*innen vom Holocaust wissen, wenn selbst die Widerständigen ahnungslos waren?

Quellen (zuletzt aufgerufen: 20. November 2023):
https://www.ndr.de/geschichte/tagebuecher/Datenbank-Die-gefaelschten-Hitler-Tagebuecher-zum-Durchsuchen,hitlertagebuecherdatenbank102.html#4/1945
http://www.kurt-bauer-geschichte.at/PDF_Lehrveranstaltung%202008_2009/25_Goebbels-Tagebuch_Dez_1941.pdf
https://www.weisse-rose-stiftung.de/widerstandsgruppe-weisse-rose/flugblaetter/
https://uebermedien.de/64502/wenn-eine-naiv-imaginierte-sophie-scholl-ueber-die-judenverfolgung-redet/
https://www.welt.de/geschichte/article173890821/Geschichtsbewusstsein-Wie-sich-heutige-Deutsche-die-NS-Zeit-schoenluegen.html


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